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Zu Besuch in Bayerns Storchenmetropole Oettingen: Nehmen die Vögel überhand?

Kurz vor dem Aufbruch: Die Oettinger Störche versammeln sich vor ihrer Reise Richtung Süden auf der St. Jakobskirche.
Foto: Heidi Källner
Tierschutz

Wann reicht's? In dieser Stadt gibt es so viele Störche wie sonst nirgendwo in Bayern

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    Wenn Heidi Källner die 180 Stufen des Kirchturms St. Jakob in Oettingen erklimmt, geht sie meist auf allen Vieren. „Das ist besser für den Rücken“, sagt die 84-Jährige. Oben angekommen, packt sie ihre Kamera aus und nimmt das erste Nest, den ersten Horst, wie es richtig heißt, ins Visier. Davon gibt es hier so viele wie in keiner anderen bayerischen Stadt. 56 Nester, darin jeweils zwei Tiere – mindestens, denn in einigen sitzt schon der Nachwuchs. Auf rund 45 Einwohner hier im obersten Norden Schwabens kommt ein Storch. Nicht allen hier gefällt das so gut wie Heidi Källner, der Storchenbeauftragten des Landesbundes für Vogel- und Naturschutz in Bayern (LBV) im Landkreis Donau-Ries. Wer sich in der Stadt umsieht und umhört, merkt schnell: Der Storch, das weiß jedes Kind, bringt nicht nur Babys, sondern auch eine Menge Dreck. Und mit dem Dreck wächst der Unmut.

    In Oettingen leben 112 Störche – ist eine Grenze erreicht?

    Von ihrem Ausguck oben am Kirchturm kann Källner die ganze Stadt überblicken. Auf dem Nachbargebäude, dem früheren Gymnasium, das inzwischen die Volkshochschule beherbergt, sitzen fünf Nester auf den Schornsteinen. Inklusive der Jungtiere wohnen ganze 15 Störche auf dem Dach. Rund um jedes der Nester sind die eigentlich roten Dachziegel inzwischen weiß-gräulich gesprenkelt. Auch auf der Straße unter dem Giebel, wo ein weiteres Storchenpärchen gebaut hat, sind etliche Flecken auf dem Asphalt, wo die Tiere „ihre Ladung abgelassen haben“, wie Källner es nennt. Daneben liegen Äste und vertrocknetes Moos quer auf dem Asphalt verteilt. Sechs Nester auf einem Dach, das ist selbst für Oettingen ein Rekord und auch der Storchenliebhaberin zu viel. „Vier reichen eigentlich auf der VHS, eines wird demnächst auch umgesetzt.“

    Vor gut 30 Jahren war das Staunen noch groß, wenn man überhaupt mal einen zu sehen bekam. Bis in die Neunzigerjahre waren Störche hierzulande extrem selten, sogar vom Aussterben bedroht, sagt Oda Wieding. Die Diplom-Biologin und Ornithologin ist die Storchenexpertin des LBV und beschäftigt sich schon seit vielen Jahrzehnten mit dem Bestand in Bayern. 1988 lebten im ganzen Freistaat gerade noch 116 Störche – nur vier mehr als heute in Oettingen. „In den Sechziger- und Siebzigerjahren gab es in Nordafrika eine Dürreperiode“, erzählt Wieding. Das habe dem Bestand zugesetzt. „Die Zugvögel verbringen die kalten Wintermonate traditionell in Afrika, sie reisen dafür jährlich tausende Kilometer.“

    Neben der Dürre im Winterquartier sei den Tieren auch die Flurbereinigung in den 70er Jahren schlecht bekommen, in deren Zuge man viele Bäche begradigte, Wiesen trockenlegte und die Störchen damit bei der Nahrungssuche behinderte. Der LBV warb damals für Maßnahmen, um den Vogel wieder anzusiedeln. Auf vielen Dächern brachte man Nisthilfen an – runde Metallkörbe, in denen Störche ihr Nest bauen können. Erklärtes Ziel des LBV damals: ein Nest pro Dorf. Ein Ziel, das Oettingen weit hinter sich gelassen hat.

    In den 80er Jahren waren die Störche in Bayern fast ausgestorben. Inzwischen sind  sie wieder da - teilweise zahlreicher, als manch einem lieb ist.
    In den 80er Jahren waren die Störche in Bayern fast ausgestorben. Inzwischen sind sie wieder da - teilweise zahlreicher, als manch einem lieb ist. Foto: Boris Roessler, dpa (Archivbild)

    Der Legende nach nisten die großen Vögel mit den langen Beinen und dem roten Schnabel schon seit mehr als 400 Jahren in der Residenzstadt mit ihren heute gut 5000 Einwohnern. Graf Ludwig XIV., der damals über Oettingen herrschte, soll ein großer Storchenfreund gewesen sein und die Störche wohl auch große Freunde von ihm. Als er die Stadt 1546 verließ, um als Teil des Schmalkaldischen Bundes gegen die Katholiken zu ziehen, sollen auch die Störche aus Oettingen verschwunden sein. Erst als der Graf nach 17 langen Kriegsjahren wieder nach Oettingen heimkehrte, seien auch die Störche zurückgekehrt. So zumindest erzählt es der Oettinger Geschichtsalmanach von 1783.

    Oettinger Adelshaus steht in der Tradition der Storchenliebhaber

    Ganz so stetig wie in der Legende war es allerdings nicht. Auch in Oettingen hat es im 19. Jahrhundert einige storchenfreie Jahre gegeben. Um 2000 muss es gewesen sein, dass sich das erste Paar seit Langem wieder in der Residenzstadt angesiedelt hat, ganz sicher weiß es Källner aber nicht mehr. „Das war dort hinten“, sagt die Rentnerin und deutet mit dem Finger auf einen Sockel, der extra für die Störche auf das Dach gemauert wurde.

    Vom Kirchturm aus zählt Heidi Källner regelmäßig die Oettinger Störche. Auf ihrem Smartphone kann sie per App die Flugrouten einiger davon einsehen, die vom LBV mit einem Bewegungssensor ausgestattet wurden.
    Vom Kirchturm aus zählt Heidi Källner regelmäßig die Oettinger Störche. Auf ihrem Smartphone kann sie per App die Flugrouten einiger davon einsehen, die vom LBV mit einem Bewegungssensor ausgestattet wurden. Foto: Tim Graser

    Källner hat die Zeit miterlebt. Vor ihrem Ruhestand leitete sie lange Jahre das örtliche Tierheim. 2009 sei sie von der Polizei verständigt worden, in einem Nördlinger Hinterhof liege ein verletzter Storch. „Dort habe ich zum ersten Mal einen in Händen gehalten und gemerkt, wie zart und federleicht diese Vögel sind“, erzählt sie. Über die Jahre vermehrten sich die Tiere immer schneller und wuchsen Källner immer näher ans Herz. Inzwischen ist die Frau, die im Ries auch als „Storchenmutter“ bekannt ist, Vollzeit für die Vögel unterwegs. Montags steigt sie auf den Kirchturm in Nördlingen, dienstags und mittwochs auf den in Oettingen, donnerstags und freitags tourt sie durch den restlichen Landkreis. Immerzu zählt sie Störche, schießt Fotos und meldet ihre Zahlen an den LBV. Zahlen, die seit einigen Jahren beharrlich wachsen.

    Heidi Källner ist die „Storchenmutter“

    Von ihrem Stammplatz auf dem Kirchturm richtet Källner ihre Kamera auf das Dach des Prinzessinnenbaus, dem Ostflügel des fürstlichen Schlosses gleich neben der Kirche. Auch hier gibt es zwei dieser Nisthilfen, in beiden wohnt ein Storchenpaar. „Die hat die fürstliche Familie damals anbringen lassen“, erzählt die Rentnerin, bevor sie ein anderes Dach weiter südlich in den Blick nimmt. Dort, über den Schornsteinen, wurden kleine metallene Miniaturdächer angebracht, ein Dach weiter hat man ihn oben vergittert, auf einem dritten ein pyramidenförmiges Metallgestell montiert, das nach oben spitz zuläuft. „Der Spengler hat hier gut verdient“, sagt Källner.

    Es ist die Kehrseite der großen Oettinger Storchenpopulation: Kaminaufbauten, die genau den gegenteiligen Zweck haben wie die Nisthilfen. Sie sollen verhindern, dass Störche sich dort ansiedeln – und sind ein erster Hinweis darauf, dass „nicht jeder Hauseigentümer begeistert ist, wenn ein Storchenpaar seinen Kamin als neue Brutstätte auserkoren hat“, so der Eintrag auf der offiziellen Internetseite der Stadt. „Seitens der Gebäudebesitzer und ebenso der Gebäudenutzer bzw. der Mieter ist in der Zeit von Mitte Februar bis Anfang Mai erhöhte Wachsamkeit geboten, wenn die Weißstörche mit dem Nestbau beginnen“, heißt es dort. Wer das Wort „Storchenabwehr“ googelt, findet besagten Beitrag der Stadt Oettingen ganz oben.

    Nicht nur in Oettingen wird der Storch unbeliebter

    So groß die Freude über die Tiere ist, so groß kann auch der Unmut werden, wenn sie den eigenen Nachwuchs auf dem heimischen Dach groß ziehen, die Fassade verschmutzen und ihren Unrat im Innenhof hinterlassen. Häufig verstoßen Storchenpaare auch mal ein lebendiges Jungtier und werfen es aus dem Nest, sodass es dann auf der Straße oder sogar vor der Haustür verendet.

    Egal, ob Schornstein, Strommast, Baumkrone oder Dachfirst: Die Oettinger Störche sind inzwischen nicht mehr wählerisch, was ihren Nistplatz betrifft, lassen sich oft auch von besagten Abwehrmaßnahmen nicht beeindrucken. „Der Storch ist nämlich ein super Baumeister“, sagt Heidi Källner schmunzelnd, während sie von oben die vielen Schornsteine begutachtet, auf die die Hauseigentümer verschiedenste Metallgestelle zur Storchenabwehr montiert haben. „Und er jammert viel weniger als der Mensch.“

    Hört man sich in der Stadt um, stößt man auf ein geteiltes Meinungsbild. Da gibt es zum einen die begeisterten Storchenfreunde wie Heidi Källner, oft selbst mit einem Nest auf dem Dach und stolz auf die „Storchenmetropole“ Oettingen. Da gibt es aber auch die Oettinger, denen der Dreck zu viel wird, die Nester von ihren Kaminen entfernen lassen, noch bevor die ersten Eier gelegt wurden. Danach nämlich braucht es eine Ausnahmegenehmigung der oberen Naturschutzbehörde in der Bezirksregierung. Andernfalls kann der Fall vor Gericht landen.

    LBV erhält zunehmend Beschwerden über zu hohen Storchenbestand

    Elmar Schlich beispielsweise wohnt nicht weit von der Kirche entfernt. Vom Turm aus sieht man auch auf seinen Schornsteinen metallene Kreuze, die die Vögel vom Nisten abhalten sollen. „Erst vor ein paar Wochen hat es einer versucht“, erzählt der Rentner. „Ich hab das Nest dann schnell entfernen lassen.“ Einige Leute stört das Klappern, ihn vor allem der Dreck und die vielen Äste. „Ums Haus herum lagen überall Äste, auch beim Nachbarn im Innenhof.“ Zu viele Störche sind es ihm zwar nicht, aber das eigene Dach will er trotzdem freihalten. „Dem Nachbarn zuliebe.“

    Ein kleines Stück außerhalb der Altstadt wohnt Renate Siebentritt. Zwar blieb ihr Dach bisher unbenistet, doch auch bei ihr kippt die Stimmung aktuell zu Lasten der Störche. Auch sie würde sofort intervenieren, wenn sich ein Paar auf ihrem Haus einrichtet. „Die Vielzahl machts. Ich habe ja nichts gegen Störche, aber 56 Nester sind einfach zu viel. Wie soll das denn werden, wenn die jetzt alle noch Kinder bekommen.“ Wie man in ihrer Stadt inzwischen zu den Tieren steht? „Es ist geteilt“, sagt die Frau. „50 zu 50.“

    Störche überwintern inzwischen in Europa

    „Wir haben tatsächlich die Situation, dass Leute sich fragen: Wann reicht's?“, berichtet Expertin Oda Wieding. Nicht nur aus Oettingen, sondern aus ganz Bayern erreichen sie regelmäßig Beschwerden über den starken Anstieg der Population. Im Freistaat leben inzwischen mehr als 2600 Störche. Im Jahr 1900 waren es nur etwa 500. Laut Wieding kam der Umschwung um die Jahrtausendwende. „Da haben erste Störche angefangen, in Spanien zu überwintern.“ Die kalten Monate dort sind inzwischen warm genug, sodass nur noch wenige Tiere den Weg über das Mittelmeer auf sich nehmen. Ein zweiter Grund: der Nahrungsüberschuss. Störche finden im Abfall des Menschen reichlich zu essen. „Die Sterblichkeitsrate ist in den letzten Jahren deutlich zurückgegangen“, so Wieding. „Es gibt Ornithologen, die ihren gesamten Winterurlaub auf einer Müllkippe in Spanien verbringen.“

    Heidi Källner indes ist von den Tieren überzeugt. Die Natur kenne kein „zu viel“. Nur der Mensch, wenn ihn etwas in seinem Alltag ein wenig zu sehr einschränkt. Die Stadt Oettingen könne von dem Storchenboom nur profitieren, sagt Källner. Schon jetzt kämen Touristen nur wegen der Störche dorthin. „Die Stadt nennt sich ja sogar fürstliche Storchenstadt. Weil der Fürst allein nicht mehr lockt, die Störche aber schon.“

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