Natürlich können sie Tausende Kilometer vom Silicon Valley entfernt auch in Franken so cool sein, wie es sich in der Welt der großen Softwareschmieden gehört: Beim Datev-Kongress in Nürnberg kickt Ex-Nationalmannschaftskapitän Philipp Lahm als Werbung für die Einführung digitaler E-Rechnungen zusammengeknüllte Ausdrucke in weiten Bögen in den Papierkorb. Das Abendprogramm übernimmt Mick Hucknalls altgediente Soul-Band Simply Red, im Innenhof der Messe verköstigt eine Armada Streetfood-Trucks das angereiste Fachpublikum. Und auf der riesigen, leuchtgrün animierten Multimediabühne hält kein Geringerer als Altbundespräsident Joachim Gauck die Hauptrede.
Der 85-Jährige schafft es, viele seiner zweitausend Zuhörer zu Tränen zu rühren, als er erzählt, wie er nach dem Mauerfall erst im Alter von 50 Jahren das erste Mal bei einer freien Wahl seine Stimme abgeben durfte und seitdem nie wieder eine Wahl versäumt habe: „Gehen Sie wählen, sonst erscheine ich Ihnen im Traum“, mahnt er die Zuhörer. Doch vor allem predigt er Zuversicht in Deutschlands wirtschaftliche Stärke und freut sich über eine, wie er sagt, „fast schon undeutsche“ positive Aufbruchstimmung, die er beim Kongress beim Thema Künstliche Intelligenz erlebe.
Datev: Das Unternehmen, das hinter fast jeder zweiten Gehaltsabrechnung steckt
Der Name Datev sagt wohl nur wenigen Deutschen etwas. Doch mit 15 Millionen Lohnabrechnungen erhält fast jeder zweite sozialversicherungspflichtige Beschäftigte sein Nettogehalt über ein Programm des Nürnberger Unternehmens berechnet aufs Konto. Und in fast 80 Prozent der gut 3,5 Millionen deutschen Betriebe und Unternehmen laufen Steuerangelegenheiten und Bilanzierungen über Datev und ihre Nürnberger Großrechenzentren.
Mit mehr als neuntausend Mitarbeitenden und 1,5 Milliarden Euro Umsatz ist das Unternehmen das zweitgrößte rein deutsche Software-Haus nach SAP – und die Nummer vier, wenn man die US-Niederlassungen von Microsoft und Oracle hierzulande mitzählt. Doch Datev unterscheidet sich grundlegend von anderen Softwareriesen: Das Unternehmen ist keine an der Börse notierte Aktiengesellschaft, sondern bis heute eine Genossenschaft. „Der große Vorteil einer Genossenschaft gegenüber kapitalmarktorientierten Unternehmen ist ganz klar die unternehmerische Nachhaltigkeit“, sagt der Vorstandsvorsitzende Robert Mayr. „Ich bin bei Datev erst der dritte CEO in 60 Jahren“, erzählt der 59-Jährige. „Das heißt: Was ich entscheide, fällt mir später selbst auf die Füße, wenn ich etwas falsch mache.“ Außenstehende hätten erstaunt reagiert, als er bei seiner Berufung auf den Chefposten mit 50 gesagt habe: „Das wird mein letzter Job, ich wechsle nicht mehr“, erzählt der Oberbayer. „Die Form der Genossenschaft erlaubt es uns, langfristig zu denken.“
Die Genossenschaft besteht aus 40.000 Mitgliedern, in erster Linie aus Steuerberaterinnen und Steuerberatern, aber auch Wirtschaftsprüfern und in dem Bereich tätigen Rechtsanwälten. Damit blieb Datev ihren Ursprüngen treu: Gegründet wurde das Softwarehaus nicht in einer Garage, sondern Anfang 1966 in einem Saal des Nürnberger Hauses des Christlichen Vereins Junger Männer (CVJM) von örtlichen Steuerberatern. Initiator war damals ein Mann, den man heute als Computernerd bezeichnen würde: Der Steuerberater Heinz Sebiger war seiner Zeit voraus und erkannte das Potenzial, das in der neuaufkommenden „Elektronischen Daten Verarbeitung“ steckte, die er parallel zum Apollo-Raumfahrtprogramm zum Mond in den USA vorantrieb. Doch die damaligen ersten kommerziellen Computer, groß wie mehrere Wandschränke, kosteten Millionen von D-Mark.
Schon 1968 war das Steuersystem ohne Digitalisierung nicht mehr bewältigbar
Zeitgleich saß der Staat den Unternehmen und den Steuerberatern mit einer gewaltigen Großreform im Nacken: Das bisherige Umsatzsteuermodell wurde 1968 durch die heutige Mehrwertsteuer ersetzt. Mit dem sogenannten Vorsteuerabzug können Firmen seitdem in ihrer Produktionskette gezahlte Umsatzsteuer, etwa beim Rohstoffeinkauf, von dem Betrag abziehen, den sie am Schluss von ihren Kunden als Mehrwertsteuer erhalten. Damit bleibt mehr Geld in der Kasse und am Ende wird nur der Betrag besteuert, der ein Rohstoff nach Verarbeitung „mehr wert“ ist.
Die Vorteile des neuen Systems lagen auf der Hand, aber Datev-Gründer Sebiger und seinen Mitstreitern war klar, dass der gigantische Verwaltungsaufwand mit Umsatzsteuer-Voranmeldungen und Vorsteuerabzügen kaum mit dem vorhandenen Personal, sondern nur durch Digitalisierung zu stemmen sein würde. Für 245.000 D-Mark Monatsmiete – dem Preis von damals vier Eigentumswohnungen – nahm die Datev vier IBM-Großrechner in Betrieb. Deren Rechenpower lag nicht einmal bei einem Promille heutiger Smartphones. Den Startknopf für das neue Rechenzentrum in Nürnberg drückte 1969 ein Bundesfinanzminister namens Franz-Josef Strauß.
Verglichen mit damals quält sich der Staat heute mit der Digitalisierung. Und auch der smarte, um Zuversichtlichkeit bemühte Datev-Chef Robert Mayr reagiert erst einmal mit einem gequälten Lächeln, wenn man ihn nach dem Stand der Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung fragt. Schließlich antwortet er diplomatisch: „Wir freuen uns über jeden Fortschritt in der Digitalisierung administrativer Prozesse.“ Ein positives Beispiel sei die anlaufende Einführung der E-Rechnung in Deutschland. „Sie ist ein wichtiger Schritt – nicht nur, um Prozesse zu digitalisieren, sondern auch, um Umsatzsteuerbetrug zu erschweren“, sagt Mayr, der selbst gelernter Steuerberater und Wirtschaftsprüfer ist. Er schätzt den Schaden durch Umsatzsteuerbetrug in Deutschland auf einen zweistelligen Milliardenbetrag.
In Italien ist die E-Rechnung deshalb schon seit 2019 Pflicht, um Zahlungsflüsse auf Knopfdruck elektronisch zu überprüfen. Auch in Griechenland ist sie gängige Praxis. In Deutschland lief die Umsetzung auf Druck der EU in diesem Jahr an und soll bis 2027 abgeschlossen sein.
Datev bietet Künstliche Intelligenz für rasend schnelle Steuer-Einsprüche
„Man hätte bei der E-Rechnung zwar schneller und konsequenter sein können, ohne lange Fristen und Ausnahmen“, sagt Mayr. Doch der Weg gehe in die richtige Richtung, aber das Tempo ist für Manager Mayr viel zu langsam. „Auf Dauer wird Deutschland nicht mit Trippelschritten weiterkommen“, betont er. „Wir müssen deutlich größere Schritte machen, wenn wir unseren Standort sichern wollen. Es reicht nicht, ein bisschen hier und da zu optimieren.“ Technologisch sei längst alles für eine sichere Digitalisierung des öffentlichen Verwaltungswesens vorhanden. „Es fehlt an klaren Rahmenbedingungen und in der Vergangenheit hat es am politischen Willen gemangelt.“

Mit seinem Unternehmen steckt der Datev-Chef seit vielen Jahren längst mitten in der nächsten Stufe der Digitalrevolution: der Anwendung der Künstlichen Intelligenz. Das neueste Datev-KI–Produkt dürfte für manchen Finanzminister eher nach Teufelszeug klingen: Der „Einspruchsgenerator“ erlaubt es Steuerberatungskanzleien, binnen weniger Minuten Einsprüche samt individuell passenden Verweisen auf einschlägige Urteile und Fachliteratur zu formulieren, wenn Steuerbescheide für Mandanten zu hoch ausgefallen scheinen.
Verknüpft ist das Produkt mit der Datev-Anwendung „LexChat“. Anders als die große Konkurrenz von ChatGPT stützt sich die Anwendung nur auf in einem geschlossenen System zugängliche echte Urteile und Fachliteratur. In den USA häufen sich dagegen die Fälle, in denen Rechtsanwälte in Schriftsätzen Fake-Urteile erwähnten, die ChatGPT als Halluzination erfunden hatte. Doch auch bei den Datev-Produkten bleibt die Verantwortung am Ende beim Steuerberater, der das Dokument fürs Finanzamt unterschreibt.
„Ich bin fest davon überzeugt, dass KI unter der richtigen Voraussetzung ein echter Wachstumshebel für Deutschland sein kann“, sagt Mayr. „Wenn wir begreifen, wie die Zusammenarbeit, die Symbiose zwischen Mensch und KI funktioniert, und wenn wir das wirklich nutzen, dann wird daraus ein Produktivitätsschub“, betont er. Auch die Steuerberater leiden unter Nachwuchsmangel und setzen große Hoffnungen auf mehr Digitalisierung und KI. Dies gelte für alle Branchen, insbesondere auch für die kleineren und mittleren Betriebe, sagt Mayr. „Deutschland steht vor einem riesigen demografischen Wandel – uns gehen die Leute aus. Wenn wir KI richtig integrieren, können wir das zumindest teilweise kompensieren.“
Um kommentieren zu können, müssen Sie angemeldet sein.
Registrieren sie sichSie haben ein Konto? Hier anmelden