Sehr geehrter Herr Söder,
nach einem Jahr mit dem verdammten Virus sind auch viele Menschen mürbe, die nicht schwer erkrankt waren, Angehörige verloren haben, in Existenznot sind oder zwischen Job und Kinderbetreuung aufgerieben werden. Sie, Herr Söder, reden in der Pandemie zwar öffentlich so viel wie nie zuvor, aber ich höre dabei immer mehr Widersprüche. Bitte helfen Sie mir dabei, einige Ihrer Entscheidungen zu verstehen:
Ich freue mich zum Beispiel darüber, dass ich nächste Woche wieder zum Frisör gehen darf (unter uns: Es ist bitter nötig, aber dieses Problem haben wir ja beide). Was ich nicht kapiere: Warum hat ein ordentlicher Haarschnitt im März etwas mit „Würde“ zu tun, wie Sie sagen, im Januar aber nicht?
Wenn nächste Woche in Bayern die Baumärkte wieder öffnen dürfen, werden sicher viele pandemiemüde Menschen den Keller neu fliesen oder im Wohnzimmer Laminat verlegen. Das war zwar wahrscheinlich nicht gemeint, als der liebe Gott (damit sind nicht Sie gemeint, sondern der echte) sprach: „Macht Euch die Erde untertan“, doch es lenkt ab. Ihre Begründung für die Baumarktöffnung verstehe ich allerdings nicht: Die Menschen wollten Blumen kaufen und Blumen seien verderbliche Ware, sagen Sie. Aber Rosen und Ranunkeln sind doch auch in den vergangenen Monaten schon verdorben, oder?
Warum dürfen Discounter Hosen und Hemden, Fahrräder und Fernseher verkaufen, die Einzelhändler, die unsere Innenstädte attraktiv halten, aber nicht? Wo ist der Nachweis dafür, dass die Hygienekonzepte bei den Großen funktionieren, bei den Kleinen hingegen nicht?
Apropos Nachweis: Haben Sie einmal erforschen lassen, wie viele Menschen sich in Museen und Theatern infiziert haben oder wie gefährlich Hotels und Restaurants tatsächlich sind, bevor deren Schließung verfügt wurde? Haben Sie mehr als ein Bauchgefühl dazu? Der Bauch ist in der Gastronomie zwar ein wichtiger Impulsgeber, aber es wäre doch sinnvoller, so etwas auf der Basis von Erkenntnis zu machen, dann könnten die Wirte ihre Schutzkonzepte darauf aufbauen und müssten nicht weiter in der trüben Suppe der permanenten Perspektivlosigkeit löffeln. Das Robert-Koch-Institut, von Ihnen oft zitiert, schätzt die Infektionsgefahr in Einzelhandel und Hotels übrigens als niedrig ein, in der Gastronomie als moderat.
Warum testen wir in Bayern eigentlich nicht mehr, wenn Sie der Meinung sind, dass mehr Tests uns mehr Freiheit geben? Wie das funktioniert, sehen wir gerade bei der Ski-WM in Oberstdorf: Viele Tests, schnelle Kommunikation der Ergebnisse auf digitalem Weg. Warum kann der Freistaat nach einem Jahr Pandemie nicht, was ein Organisationskomitee in wenigen Wochen organisiert hat?
Sind Sie sicher, dass ein Inzidenzwert von 35 auch dann noch ausreicht, wenn er erreicht ist, damit Gesundheitsämter Infektionsketten verfolgen und Krankenhäuser alle Schwerkranken behandeln können? Das ist doch das Ziel aller Einschränkungen von Freiheit, Wohlstand und Bildung. Oder warnen Sie dann wieder vor „Öffnungshektik“?
Ach, Herr Söder, früher war es einfach, Sie zu durchschauen. Heute entscheiden und sprechen Sie in Rätseln oder machen einfach das Gegenteil von dem, was der Aiwanger vorschlägt. Deshalb bin ich gespannt auf Ihre Antworten. Mir täte neben Vorsicht und Umsicht nämlich etwas Weitsicht gut. Und Zuversicht kann auch nicht schaden.
Herzlichst, Uli Hagemeier