Es waren nur wenige Sekunden an diesem Abend des 11. Juni 2019. Ein kleiner Moment mit großen Folgen. Rad-Sportler Tobias Erler (40) hatte den Nachmittag bestens gelaunt mit seinen Kindern am Badesee verbracht und machte sich auf zu einer Trainingsfahrt in seiner Heimat Tittmoning im Landkreis Traunstein. So wie jeden Tag. Knapp 15 000 Kilometer legt der Elite-Amateur des RSC Auto Brosch Kempten pro Jahr zurück, mehr als manch anderer mit dem Auto.
Doch auf dieser Tour übersah Erler einen Wagen. Es krachte, der 40-Jährige stürzte und wurde verletzt ins nächste Krankenhaus gebracht. „Die Schwere des Unfalls war mir anfangs noch nicht klar. Die Schmerzmittel sind heutzutage einfach zu gut. Aber als ich die Diagnose Beckenbruch gehört habe, musste ich kurz die Luft anhalten. Mir war der Leidensweg von einem Radkollegen bekannt“, erzählt der Gymnasiallehrer rückblickend.
Viele Gedanken, sagt er, seien ihm im Krankenbett durch den Kopf gegangen. Hätte, wenn und aber. Erler hatte sich große Hoffnungen auf den Sieg bei einer anstehenden Rundfahrt gemacht, er wäre wenig später als Favorit und Lokalmatador beim Kemptener Stadtkriterium an den Start gegangen. Doch der Oberbayer ist ein Mann, der Dinge aus ganzem Herzen und voller Überzeugung tut. Aufgeben, die bis dato so erfolgreiche Karriere wenige Tage nach dem erneuten Gewinn der bayerischen Meisterschaft im Einzelzeitfahren einfach so hinzuschmeißen, war für ihn selbst in dieser misslichen Lage keine Option. Zumal es seine letzte Saison als Elite-Fahrer ist. „Ich wollte das alles nicht mit einem Unfall enden lassen“, meint er. Und so begann für den Familienvater drei Tage später nach geglückter Operation der beschwerliche Weg zurück aufs Rad. Schon eine Woche nach dem Unfall durfte er die Klinik wieder verlassen – und erlebte dabei eine skurrile Situation: „Ich habe den Chefarzt gefragt, was ich gegen die starken Schwellungen am Körper machen könnte. Und er antwortete mir, ich solle doch morgen auf meinen Hometrainer gehen. Ich habe meinen Ohren nicht geglaubt. Der Zimmerkollege musste das auch meiner Frau bezeugen. Ich wäre daheim sonst für verrückt verkauft worden“, erzählt Erler.
Zunächst plagten ihn Schmerzen. Alles am Körper tat weh. Der Nacken, die Wirbelsäule und der Brustkorb. Erst stieg für fünf Minuten auf den Hometrainer, in Hausschlappen und T-Shirt. Dann steigerte er das Pensum Tag für Tag. Die Schwellungen waren nach drei Tagen verschwunden, die vielen Blutergüsse nach drei Wochen. 14 Tage nach dem Unfall saß Erler tatsächlich wieder auf dem Rad. Im Freien. „Mein nächstes Ziel war es, die Schmerzmittel schnellstmöglich abzusetzen und Stück für Stück die Belastungsdauer zu steigern. Die Kunst ist es, nicht zu übertreiben“, sagt er. Doch, angetrieben vom Ehrgeiz eines Leistungssportlers, passierte genau dies. Wassergymnastik im See, Training auf dem Fahrrad, danach Elektrotherapie – und abends Schmerzen. Der 40-Jährige kam trotzdem unerwartet schnell wieder in Tritt, der Heilungsprozess lief komplikationslos.
Anfang August kehrte Erler beim Dachauer Bergkriterium über 44 Runden und insgesamt 60 Kilometer zurück ins Team des RSC Kempten. „Für mich war es überraschend, dass ich gleich wieder vorne mitfahren konnte“, meint er. Auf Anhieb schaffte es der Oberbayer beim international top besetzten Rennen auf den fünften Platz. Und es hätte sogar noch besser laufen können. Erler sagt: „Wenn ich gewusst hätte, dass es schon wieder so gut geht, hätte ich mich taktisch anders verhalten.“ Letztlich überwog aber freilich die Freude über das Blitz-Comeback im Kreis der Besten, nur zwei Monate nach dem schweren Sturz.
Die physischen Folgen des Unfalls hat Erler demnach überwunden, doch psychisch sind Narben geblieben. Der Vollblut-Sportler ist nachdenklicher geworden. Die ersten Trainingseinheiten nach dem Krankenhausaufenthalt seien eine Qual gewesen. Erler erzählt: „Es waren überall Autos, Autos, Autos. Ich bin im Straßenverkehr noch immer sehr sensibel und sehe erst jetzt, wie oft es richtig knapp zugeht und man auf gegenseitige Rücksicht angewiesen ist.“
Die letzten Rennen seiner Laufbahn will der 40-Jährige genießen. Nichts übertreiben. Auf den Körper hören. „Und ich werde künftig noch besser aufpassen“, sagt er und lacht. So kennen ihn seine Mitstreiter im Allgäu bei Deutschlands erfolgreichstem Amateur-Team. Von seiner fröhlichen Art würden sie sich gerne noch länger anstecken lassen.