Dieser Artikel über die Luiz Fernando Braz von der Fazenda Esperanza in Irsee (Ostallgäu) stammt aus dem Archiv von allgaeu.life. Zuerst erschien er im März 2018.
Der Morgen begann mit einer niederschmetternden Nachricht für Luis Fernando Braz (32). Einer seiner "Jungs", wie er sie liebevoll nennt, hat es nicht geschafft. Der junge Mann bricht seine Therapie auf eigenen Wunsch ab und reist noch am selben Tag ab. "Wir waren auf einem so guten Weg. Es ist jammerschade. Das tut mir sehr weh", sagt Luiz Braz. Der Abbruch macht dem Brasilianer mit dem Bart und den zum Zopf gebundenen Haaren sichtlich zu schaffen. Er weiß, dass der Abgereiste vermutlich schon in diesem Moment irgendwo in Deutschland seiner Versuchung erliegt. Er wird Drogen konsumieren und wieder in einen teuflischen Kreislauf geraten.

Luiz senkt den Blick und denkt eine Weile nach. Rückschläge muss er immer wieder erleben. Sie schmerzen ihn. Aber sie bestärken ihn auch in seiner Entscheidung als "Gottgeweihter" auf einem Bauernhof im Ostallgäu zu leben. Als Mensch, der wie ein Mönch lebt. Ohne Besitz, Sex und Familie.
Einem Orden gehört Luiz nicht an. Statt eines Habits (Ordenskleidung) trägt er einen unauffälligen, grauen Hoodie, Jeans und Chucks. Äußerliches interessiert ihn nicht. Er widmet sich voll und ganz seiner Aufgabe - nämlich Süchtigen zu helfen. Mit ihnen zu beten. Sie auf einen guten Weg zu bringen. "So bitter es auch ist, wenn einer abbricht: Ich muss trotzdem weitermachen", sagt er. "Ich habe eine Verantwortung. Das hier ist meine Familie."
Die meisten kommen aus Großstädten auf den "Hof der Hoffnung" im Ostallgäu
Mit Familie meint er die 20 Süchtigen oder ehemaligen Süchtigen, die auf Gut Bickenried eine vorübergehende Bleibe gefunden haben. Sie kommen meist aus der Großstadt in die Allgäuer Provinz. Seit zehn Jahren gibt es dort den "Hof der Hoffnung".
Wer hier eincheckt, muss sein Leben völlig neu ordnen: ohne Handy, Internet, Zigaretten und andere Suchtmittel.
Dafür gibt es: Gebet, Natur, Gemeinschaft, feste Aufgaben.
Jeder der Männer muss einen Beitrag für den Hof leisten. Sei es im Stall oder Gemüsegarten, beim Kochen, im Besuchercaf oder der angschlossenen Herberge mit 21 Schlafplätzen.

Weltweit gibt es 135 "Fazendas da Esperança". Das ist Portugiesisch und bedeutet "Höfe der Hoffnung". Die erste Einrichtung gründete der deutsche Franziskanermönch Hans Stapel 1970 in Brasilien. Und zwar in der 120.000-Einwohner-Stadt Guaratniguetá aus der auch Luiz Braz kommt.
Die dortige Drogenszene mied der junge Brasilianer freilich. Sie machte ihm eher Angst, als dass er sie anziehend empfand. Durch Zufall kam der Grafiker aber in Kontakt zur dortigen Fazenda. Er erhielt den Auftrag, T-Shirts für die Fazenda zu gestalten. Die Begegnung veränderte sein Leben. "Ich hatte damals zwar alles: einen Job, Geld und eine Freundin. Aber ich fühlte mich innerlich leer und traurig. In der Fazenda wurde ich angenommen wie ich bin."
Schon bald arbeitete er an Samstagen als Freiwilliger mit. Als er gefragt wurde, ob er eine Fazenda in Deutschland aufbauen wollte, sagte er zu. So kam Luis vor zehn Jahren erstmals ins Allgäu. "Anfangs wurden wir von manchen komisch angeschaut. Die hatten Angst vor uns und unserem Projekt." Vorausgegangen war ein Bürgerentscheid, in dem sich die Befürworter des Fazenda-Projekts nur knapp durchsetzten.
Heute scheint das Miteinander zwischen Hof- und Ortsbewohnern problemlos zu gelingen. "Wenn ich mit meinen Jungs mal nicht zum Gottesdienst in die Kirche komme, fragen die Leute gleich, was los war", erzählt Luiz schmunzelnd. Jeden Tag betet Luiz um 6.30 Uhr gemeinsam mit den anderen Männern auf Gut Bickenried. Sie lesen in der Bibel, denken über die Bedeutung der christlichen Feste nach. Die Ostergeschichte zum Beispiel nimmt Luiz Braz zum Anlass, um mit "seinen Jungs" über Judas und die Parallelen zum eigenen Leben nachzudenken: "Wie oft haben wir etwas wichtiges weggeschmissen und verraten, nur um ein kurzes Glück oder einen kurzen Kick zu bekommen?"
"In der Fazenda erleben wir täglich Ostern"
Für den Brasilianer steht Ostern für einen bewussten Neuanfang. "Judas erhängte sich verzweifelt am Baum. Petrus dagegen fand in die Gemeinschaft zurück. So gesehen erleben wir auf der Fazenda täglich Ostern. Jeder hat die Wahl", sagt Luis, der jeden Willigen unterstützt. "Ich bin nicht Chef, Richter oder Polizist. Ich bin Bruder", erklärt er sein Selbstverständnis. Dann fügt er augenzwinkernd an: "Ein Bruder mit deutschem Kopf und brasilianischem Herz."

Zwar bricht etwa die Hälfte der Männer ihre Therapie vorzeitig ab. Aber 70 Prozent von denen, die ein Jahr durchhalten, werden laut Statistiken der Fazendas nicht mehr rückfällig.
Darauf hofft auch Adnan, den wir vor dem Kaminfeuer im Essensraum treffen. Der 21-Jährige aus Somalien trank bis vor wenigen Monaten exzessiv Alkohol, teils schon am Morgen. Er war auf dem besten Weg, sein Leben wegzuschmeißen. Vor seiner Flucht nach Deutschland hatte Schreckliches erlebt und seine Familie verloren.
Auf dem "Hof der Hoffnung" fühlt er sich zum ersten Mal geborgen. "Hier bin ich sicher. Die Gemeinschaft gibt mir Kraft." Als Muslim hätte er nie gedacht, eines Tages mit Christen zusammen zu wohnen. "In meiner Heimat hieß es, das sind schlechte Menschen. Aber für mich sind es sehr, sehr gute Menschen", sagt Adnan. Er überlege sogar, sich taufen zu lassen - und sich nach Therapie in den Dienst der Fazenda zu stellen.
Als Luiz Fernando Braz diese Aussagen hört, ist er zum zweiten Mal an diesem Morgen sichtlich bewegt. Er hat zwar einen seiner Jungs verloren, aber einen anderen endgültig gewonnen.