Etwas wandern, garteln, die Enkel betüddeln – womit mancher Rentner den Alltag verbringt, ist nichts für Ingeborg Wiemann-Stöhr. Die Wahl-Lechbruckerin setzt auf lebenslanges Lernen. „Ich will dranbleiben und anspruchsvolle Aufgaben haben“, sagt die 71-Jährige. Deshalb begann die pensionierte Realschullehrerin vor viereinhalb Jahren mit ihrer Doktorarbeit. Dafür erhielt sie jetzt die Note 1,0 – Magna cum Laude. „Der Weg zur Dissertation war vorgezeichnet“, berichtet Wiemann-Stöhr.

Auf klassischen Pfaden ist die gebürtige Dortmunderin, die 40 Jahre in Baden-Württemberg gelebt hat, dafür aber nie gegangen. „Ich habe kein klassisches Abitur“, sagt sie. Nach dem Realschulabschluss lernte sie Chemielaborantin. Später bildete sie sich zur Grundschullehrerin weiter und absolvierte ein Aufbaustudium zur Realschullehrerin. In diesem Beruf arbeitete sie fast 30 Jahre lang. Mit 40 studierte sie erneut und schloss mit Auszeichnung ab.
„Ich bin ein gutes Beispiel dafür, dass es viele Möglichkeiten zum Wechseln gibt“, sagt sie. Das habe sie auch ihren Schülern immer vermittelt. „Es ist zunächst nur wichtig, ins Berufsleben reinzukommen und sich nicht mit zu vielen Überlegungen selbst zu blockieren. Wofür man sich entscheidet, ist zweitrangig. Man weiß ja heute ohnehin nicht, was man in 40 Jahren für Bedürfnisse hat.“ Im Berufsleben später sei auch oft das Betriebsklima entscheidender, als ob man mit Metall oder Holz arbeitet.
Aus Fehlern lernen, statt an ihnen zu verzweifeln
Für Wiemann-Stöhr steht das Wohlbefinden im Vordergrund. Sie habe ihren Schülern stets ein gutes Gefühl, Stärke, Selbstbewusstsein und die Fähigkeit zur kritischen Reflexion vermitteln wollen, in dem sie an sie glaubte, ihnen beibrachte, aus Fehler zu lernen, statt an ihnen zu verzweifeln, und sie habe auf sich selbst geschaut. „Man kann lernen, mit Problemen umzugehen, Stress abzubauen und sich selbst zu motivieren. So habe ich auch meine Doktorarbeit durchgestanden“, sagt sie.
Das war nicht einfach, denn mit der Dissertation arbeitete sie einen Teil der Vergangenheit der Generation ihrer Eltern auf. In der Arbeit von Wiemann-Stöhr geht es um „Die pädagogische Mobilmachung: Schule in Baden im Zeichen des Nationalsozialismus“. „Ich bin 1946 geboren“, sagt sie, „und mit einer Elterngeneration aufgewachsen, die ihre Nazivergangenheit nicht aufgearbeitet, sondern an ihre Kinder weitergegeben hat.“ Das sei unterschwellig passiert, etwa durch wiederholte Aussagen wie: Ein deutsches Mädchen raucht nicht, ein deutsches Mädchen schminkt sich nicht, ein deutsches Mädchen ist blond.
Wiemann-Stöhr wurde davon so geprägt, dass sie in der Schule die Nazizeit nicht mehr habe unterrichten können, ohne einen Weinkrampf zu bekommen. „Ich habe für meine Doktorarbeit anfangs psychologische Begleitung gehabt“, erzählt sie. „Das dauerte bis zum Übergang in die Professionalität, als ich mich von ihr und nicht mehr von meinen Prägungen leiten ließ.“
Ich will unbedingt noch in die Antarktis, durch den Panamakanal und die Sternwarte in Chile sehen.Ingeborg Wiemann-Stöhr
Am Ende wurde daraus, so habe es ihr Doktorvater formuliert, ein Standardwerk, weil es zu dem Thema nichts Vergleichbares gebe. „Es ist ein Novum, weil sich die Badener immer für liberal halten, aber in der NS-Zeit dem herrschenden Ungeist nicht widerstehen konnten. Ich will mit meiner Arbeit auch erreichen, dass sie darüber nachdenken, ob ihre Liberalität tatsächlich so verwurzelt ist, dass sie Krisen standhält.“
In ihrer Dissertation widerspreche sie 103-mal Thesen aus der Literatur, die allgemein akzeptiert seien. Deshalb rechnet sie mit Gegenwind nach der Veröffentlichung im Klinkhardt-Verlag im Herbst. „Aber darauf freue ich mich“, sagt sie. Alle Behauptungen seien mit Quellen belegt.
Für Wissen ist man nie zu alt
Widerstände kennt sie zudem bereits. Schon als sie mit der Doktorarbeit begann hätte mancher Gleichaltrige gefragt, ob das jetzt noch sein müsse. Für Wiemann-Stöhr musste es, denn „Lernen ist ein großer Teil des Lebens. Es bedeutet für mich auch, sich zu verändern und nicht nur Wissen zu pauken“.
Bei ihren jungen Kommilitonen kam sie gut an. „Sie mögen es nur nicht, wenn ihnen Ältere ständig mit ihrer Erfahrung kommen. Das habe ich nie gemacht, weil Erfahrungen oft unreflektiert sind, und daher haben mich die jungen Studenten akzeptiert.“ Auch ihre früheren Schüler reagierten positiv auf die Dissertation. Sie wussten schon bei Wiemann-Stöhrs Verabschiedung als Lehrerin, dass die Pensionierung für sie einen Neuanfang bedeutete und schenkten ihr einen selbst gebastelten Doktorhut.
Die nächste Zeit allerdings will sie nun erst einmal keine Archive mehr durchforsten und am Computer sitzen, sondern reisen. „Ich will unbedingt noch in die Antarktis, durch den Panamakanal und die Sternwarte in Chile sehen“, sagt sie. Erst in den dunklen Wintermonaten geht es weiter mit wissenschaftlichen Aufsätzen in badischer Geschichte. „Vor typischen Altersbeschäftigungen graust mir auch weiterhin“, sagt sie mit einem Lächeln.