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Fasten-Aktion: Kaufbeurer Pfarrer Sebastian Stahl über Lügen, Wahrheit und Blumenkohl

"Sieben Wochen ohne Lügen"

Fasten-Aktion: Kaufbeurer Pfarrer Sebastian Stahl über Lügen, Wahrheit und Blumenkohl

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    Pfarrer Sebastian Stahl spricht im Interview über die kleinen und großen Lügen des Alltags.
    Pfarrer Sebastian Stahl spricht im Interview über die kleinen und großen Lügen des Alltags. Foto: privat

    Verzicht auf Essen, Trinken, Handy – freiwillig asketisch zu leben, scheint out zu sein. Was ist das Ziel der Fastenaktion der evangelischen Kirche?

    Sebastian Stahl: Es geht gar nicht um Askese. Die Fastenaktion will viel mehr dazu ermutigen, mal wieder über das Thema Wahrheit nachzudenken. Wie gehe ich um mit Wahrheiten und Unwahrheiten? Wie schnell kommt eine Gefälligkeitslüge über meine Lippen, etwa wenn ich gefragt werde „Hat es geschmeckt?“ oder „Wie sehe ich aus?“ Und wo sind die Bereiche des Lebens, wo mir vielleicht das Lügen zur zweiten Natur geworden ist?

    Sehe ich da einen moralischen Zeigefinger?

    Stahl: Nein, die Kirche will nicht den moralischen Zeigefinger erheben, sondern zum Innehalten ermutigen. Die eigenen Muster sollen sozusagen überdacht werden, und dazu will die Aktion Hilfestellung geben. Und von einem wahrhaftigeren Umgang mit der Wahrheit profitiert ja nicht nur die Umwelt, sondern auch man selbst.

    Eine Gesellschaft, in der die Lüge nicht nur toleriert, sondern quasi miteinkalkuliert ist, ist kein sicherer Platz mehr. Umso wichtiger, dass sich jeder Einzelne immer wieder um eigene Ehrlichkeit bemüht.Pfarrer Sebastian Stahl

    Ein Thema auch für Ihre Gottesdienste in den nächsten sieben Wochen?

    Stahl: Nicht dezidiert nur für die nächsten Wochen, sondern generell: Es ist ein Thema, das sich selbst immer wieder zur Sprache bringt, denn in den Gottesdiensten geht es immer um unser Leben und um unser Miteinander. Da spielen der Umgang mit Wahrheit und eigener Authentizität ja entscheidende Rollen. Aber vielleicht mache ich die Fastenaktion selbst einmal zum Gottesdienstthema.

    Wir leben in Zeiten von Fake News, Falschmeldungen und handfesten Lügen. Im Internet hat jeder seine eigene Wahrheit. Was macht das mit unserer Gesellschaft?

    Stahl: Es ist verheerend. Eine Gesellschaft, in der die Lüge nicht nur toleriert, sondern quasi miteinkalkuliert ist, ist kein sicherer Platz mehr. Umso wichtiger, dass sich jeder Einzelne immer wieder um eigene Ehrlichkeit bemüht. Jeder kann in seinem eigenen Umfeld Inseln der Sicherheit schaffen.Mal ehrlich, wann haben Sie selbst zuletzt gelogen?

    Stahl: Ganz ehrlich: Ich kann mich gar nicht daran erinnern. Aber das heißt nicht, dass ich nie lüge. Leider!

    Schon mal sich selbst belogen?

    Stahl: Klar. Und zwar so gut, dass ich’s – wenn überhaupt – sehr spät gemerkt habe. Und das ist übrigens auch nicht besser, als andere anzulügen. Sich selbst anlügen: Bei den einen ist das diese innere Stimme, die immer sagt: „Du kannst nichts, du bist nichts wert!“ Bei mir sagt sie eher: „Alles ist gut, kein Problem, alles ist ok!“

    Ist die Wahrheit immer besser?

    Stahl: Die Frage sollte viel früher ansetzen: Was ist die Wahrheit überhaupt? Problematisch ist nämlich, wenn man meint, die Wahrheit zu kennen. Gerade in Konfliktsituationen: Da ist nie einer im vollen Besitz der Wahrheit, nie! Jeder hat nur seine eigene Wahrnehmung, aber die wird meistens mit der Wahrheit verwechselt. Aber Wahrheit und Wahrnehmung, das sind sehr verschiedene Dinge. Will man da weiterkommen, bedarf die eigene Wahrnehmung zunächst mal einer gründlichen Realitätsprüfung. Die eigene, nicht die des anderen. Und am besten – und das ist anstrengend und oft schmerzhaft – zusammen mit einem möglichst neutralen Gegenüber, der nichts schönredet, sondern aus seiner Position seine Eindrücke dazulegt. Wirklich hilfreich ist es, wenn der Mensch meines Vertrauens mir da nicht gleich sagt: „Du hast recht!“

    Soll man die Wahrheit sagen, auch wenn sie wehtut oder anstrengend ist?

    Stahl: Ist das nicht situationsbezogen? Muss ich die Wahrheit immer sagen? Oder ist es nicht manchmal besser, zu schweigen? Ich finde schon. Meine Großmutter beispielsweise hatte in ihren letzten Lebensmonaten einen faustgroßen Tumor im Bauch. Dem Arzt hatte sie verboten, ihr zu sagen, was das ist. Sie wusste, dass sie an diesem Ding in ihr sterben würde. „Zyste“, so nannte sie den Tumor. Das war ihre Entscheidung, ihr Weg. Das hat es für sie leichter gemacht. Eine Selbstlüge, na und? Das haben wir mitgetragen. Und haben auch, wenn überhaupt, von der „Zyste“ gesprochen.

    Gibt es einen Unterschied zwischen flunkern und lügen?

    Stahl: Ja klar. Deshalb gibt’s ja auch die verschiedenen Verben. Lügen ist harte Kalkulation. Beim Flunkern ist die Tragweite weitaus geringer.

    Jetzt mal konkret: Wenn ich zu einen aufwendig zubereiteten Essen eingeladen war und es hat nicht geschmeckt, darf ich das dann auch sagen?

    Stahl: Das habe ich tatsächlich schon mal erlebt. Das war auf dem Schüleraustausch in Frankreich, ich war 15. Am ersten Abend in meiner Gastfamilie gab es Blumenkohl. Ich hasse Blumenkohl. Aber ich aß brav meinen Teller auf, auch den Nachschlag, der mir aufgenötigt wurde. Ich wollte halt nicht unhöflich sein. Mein Pech war aber, dass meine Eltern diesen Schüleraustausch leiteten. Meine Gastfamilie hatte sie für den darauffolgenden Abend zum Essen eingeladen. In meiner Gegenwart fragte die Gastmutter, was „der Junge“ denn nicht essen möge. Da bin ich voll aufgeflogen. Aber ich glaube, in so einem Fall würde ich die Wahrheit heute auch nur dann sagen, wenn ich gefragt würde. Ansonsten: Teller leer essen!

    Und wenn mir die Farbe der neuen Jacke der Kollegin nun partout nicht gefällt?

    Stahl: Dann ist das ihre Sache. Muss ich alles kommentieren, was mir nicht gefällt? Nein! Wenn sie mich allerdings danach fragte, wäre das ähnlich wie mit dem Essen, das mir nicht schmeckt.

    Wann ist denn eine (Not-)lüge aus Ihrer Sicht überhaupt erlaubt?

    Stahl: Wenn ich der Meinung bin, dass ich niemandem schade.

    Beteiligen Sie sich selbst an der Fastenaktion der evangelischen Kirche?

    Stahl: Ja, ich habe mir den Kalender bestellt. Das sind gute Impulse und Anregungen für jeden Tag.

    Wie setzen Sie das am besten in Ihrem privaten Umfeld um?

    Stahl: Leicht ist es da, wo man sich gut versteht. Ehrlichkeit und Authentizität sind mir sehr wichtig. Ich habe viele Freunde und bin sehr dankbar dafür. Da ist die gemeinsame Basis immer Ehrlichkeit. Es ist wunderschön, sich so zu begegnen, ehrlich und unbefangen. Da darf man dann auch sagen, wenn mal was nicht passt. Mit einem Freund gab’s neulich eine Unstimmigkeit, eine Verletzung. Ich hab mich durchgerungen, habe es angesprochen und wir haben das geklärt. Er konnte das gut annehmen und die Freundschaft ist dadurch tatsächlich noch tiefer geworden. Aber schwierig wird’s, wenn es Unstimmigkeiten in der eigenen Familie gibt, zum Beispiel mit den eigenen Eltern. Da bleibt man auch als erwachsener Mann „der Junge“.

    Ehrlichkeit und Authentizität sind mir sehr wichtig.Pfarrer Sebastian Stahl über Lügen im privaten Umfeld

    Nennen Sie ein Beispiel.

    Stahl: Meine Eltern schenkten mir jahrelang Bücher, die mich nicht interessierten oder die zu lesen ich keine Zeit hatte, weil ich lieber anderes las. Aber ich sagte nie etwas, und genau das störte mich an der Sache am meisten. Wenn sie mich gefragt hätten, welches Buch ich gerne lesen würde oder mir Schokolade geschenkt hätten oder was in die Urlaubskasse geworfen hätten, dann hätte ich mehr davon gehabt. Aber das klar zu benennen? Echt heikel! Als ich’s dann tatsächlich tat, siehe da: Sie verstanden es, es war kein Problem.

    Und jetzt noch ein Tipp für alle, die angelogen werden und das wissen. Wie kann ich damit umgehen?

    Stahl: Wenn man sich wirklich sicher ist, dass man angelogen wird, hat man einen Handlungsspielraum. Aber aus verschiedenen Gründen kann es trotzdem sehr schwer sein, die Sache anzugehen. Am besten, man sucht sich einen Menschen, dem man wirklich vertraut, bespricht das mit dem und formuliert gemeinsam die entscheidenden Sätze. Denn letztlich hilft es alleine, klar auszusprechen: „Ich weiß, dass du mich anlügst. Ich glaube dir nicht! Mein Vertrauen ist kaputt!“ Nur so bringt man ein Lügengebäude zum Einstürzen. Und nur so kommt Klarheit in die Beziehung.

    Wäre eine solche Beziehung dann nicht aber beendet?

    Stahl: Das heißt nicht, dass die Beziehung noch geheilt werden kann. Das wäre schön, ist aber nicht immer möglich. Aber: Man hat Klarheit geschaffen, wenn man ausspricht „Du lügst mich an. Deshalb kann ich dir nicht mehr vertrauen!“ Dann ist der Ball und die Verantwortung beim anderen. Und er kann entscheiden: Bin ich nun ehrlich? Beende ich das Lügen? Versuche ich, diese Beziehung zu retten?

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