Mit einem hauchzarten Pinsel streicht Viktoria Jung feine Linien an die Wand. Immer wieder tupft sie in ihren Aquarell-Malkasten, um die purpurne Farbe aufzunehmen. Die Aufgabe der diplomierten Restauratorin ist es, weiße Schleier vom Gemälde des Roten Reiters zu entfernen. Es ist ein Motiv aus der Parzival-Sage, das den Sängersaal von Schloss Neuschwanstein ziert. Doch Feuchtigkeit hat dort über die Jahre dafür gesorgt, dass das Bildnis von schmalen vertikalen Linien überzogen ist. Nicht gravierend zwar, wie Jung betont, aber doch immerhin ausbesserungsbedürftig.

„Wir machen so viel wie nötig und so wenig als möglich“, sagt Jung. Sie hat schon in der Münchner und Würzburger Residenz an ähnlich kostbaren Gemälden gearbeitet. Das Projekt auf Schloss Neuschwanstein sei aber definitiv ein Highlight. Die Restauratorin orientiert sich bei ihrer Arbeit an einer vorher angefertigten Kartierung der Schäden. Immer wieder schweift ihr Blick hinüber zum Notebook, wo in einem Dokument alle altersbedingten Spuren an den Gemälden verzeichnet sind.
Wir achten sehr darauf, dass der Besucher durch die Arbeiten nicht viel von dem verliert, was er sonst zu sehen bekäme.Schlossverwalter Johann Hensel
Seit einigen Monaten laufen nun auch die Renovierungsarbeiten am Palas-Bau von Schloss Neuschwanstein auf Hochtouren. Dazu gehören der Thronsaal, die Wohnräume von König Ludwig II. und auch der Sängersaal. Dieser ist inzwischen bis zur Decke eingerüstet. Aber, und darauf legt Schlossverwalter Johann Hensel besonders Wert: „Wir achten sehr darauf, dass der Besucher durch die Arbeiten nicht viel von dem verliert, was er sonst zu sehen bekäme.“

Und so läuft der Führungsbetrieb ganz normal weiter, während an den kostbaren Kunstschätzen im Schlossinneren gearbeitet wird. Das Projekt verschlingt insgesamt über 20 Millionen Euro.
„An den Baugerüsten hängen bedruckte Leinwände, die das zeigen, was sich hinter dem Gerüst befindet“, erklärt Hensel. Ganz bewusst seien die aufgehängten Repliken aber auch etwas transparent, damit die Schlossbesucher sehen, dass hinter diesen sogenannten Screens gearbeitet wird. „Die Besucher sollen den Restauratoren ruhig über die Schulter schauen, um mehr Verständnis für die Einschränkungen zu haben“, sagt Hensel. Bisher gehe dieses Konzept gut auf. An den Besucherzahlen sei keine negative Entwicklung zu erkennen. Ganz im Gegenteil.

Schwieriger Spagat
Eine Etage höher im Sängersaal schabt Michele Christale gerade mit einem Spachtel alten Klebstoff vom Fichten-Boden. „Hier lag mal ein roter Teppich, der in den 1980ern verlegt worden war“, sagt der Kirchenrestaurator. Der Holzboden soll nun wieder in den Urzustand zurückversetzt werden und seinen ursprünglichen Glanz erhalten. Den Bereich, wo Christale arbeitet, können die Besucher allenfalls erahnen. Die Gerüste, die im Sängersaal bis zur Decke reichen, stehen auf Gummimatten und sind mit Teppichen belegt – um Lärmemissionen zu vermeiden. Schlossverwalter Hensel spricht auch deswegen von einem Spagat, den es hinzubekommen gilt.

Der Zeitplan sieht bislang vor, dass bis Anfang Juli die Arbeiten am Torbau, durch den Besucher das Schloss betreten, abgeschlossen sein sollen. Bis dahin ist auch das Gerüst weg, das bislang den Blick aufs Schloss von Osten her etwas verdeckt. Bis Mitte August sollen dann auch die Arbeiten an der Neuschwansteinstraße zur Pöllatschlucht hin abgeschlossen sein.
Für 2022 ist die Fertigstellung des Mammutprojekts vorgesehen. Bis dahin wird Viktoria Jung aber noch viele Male ihren feinen Pinsel in ihren Aquarellfarbkasten tauchen und die zahlreichen prunkvollen Gemälde ausbessern.
