Abends kommt der Fuchs zum Gute-Nacht-Sagen vors Haus. Britta B. und er kennen sich schon ewig. Das Tier ist ganz zahm ihr gegenüber und weiß, dass hier immer etwas Futter wartet. Auch Dackel Shyla hat nichts gegen seinen Besuch. Das Haus steht mitten im Wald im Alpenvorland. Es gibt viele Tage, an denen sie außer den Tieren niemanden sieht. „Und diese Tage genieße ich“, sagt die 90-Jährige und lacht. Eine alte Freundin hat ihr einmal den Namen „Waldfrau“ gegeben. Ganz passend, findet sie.
Dass sie auch gern mit Menschen zusammen ist, wissen die Leute im nahen Dorf. Dort hat sie ihren Dackelclub, ist in der Rehkitz-Rettungsgruppe aktiv und gibt Turnkurse für Dorfbewohnerinnen und -bewohner, die nicht einmal halb so alt sind wie sie. „Aber ich bin so froh, dass ich die Ruhe hier draußen habe, das ist einfach ein Traum“, sagt die Rentnerin, die seit 25 Jahren das ganze Jahr über in dem Haus lebt, das ihr Vater, ein Münchner Arzt, Anfang der Dreißigerjahre als kleines Wochenenddomizil hatte bauen lassen. Pultdach, dunkelgrüne Fensterläden, alles aus Holz. Sie liebt dessen Geräusche. „Wenn die Balken knarren, ist das für mich Heimatmusik.“
Die Waldfrau verbringt 22 von 24 Stunden des Tages draußen
An einem sonnigen Vormittag wie diesem ist sie aber am liebsten draußen. Wobei: nicht nur dann. „Ich verbringe gerade ungefähr 22 von 24 Stunden des Tages im Freien“, erzählt die zierliche, aber zähe Frau mit dem weißen, schulterlangen Haar. Sie sitzt auf ihrer Terrasse, vor sich den Garten mit 24 Vogelhäuschen, der hangabwärts in eine insektenfreundliche Magerwiese mündet, die sie nur einmal im Jahr mähen lässt. Arnika, Akelei, Zittergras und der Stolze Heinrich blühen hier übers Jahr hinweg, orangefarbene Perlmuttfalter flattern herum. Es ist die einzige Seite des Gebäudes, die nicht vom Wald umgeben ist. Von ihrem Platz kann die „Waldfrau“ an klaren Tagen die Zugspitze sehen. Durch die Terrassentür wankt der Dackel, er ist schon 17 und schwach auf den Beinen.

An der Holzwand neben der Tür hat sie ihr Bett aufgestellt: ein Kasten aus massivem Holz, darauf mehrere Decken. „Ich schlafe jeden Tag draußen, ob Sommer oder Winter“, sagt die Naturergebene. Derzeit ist das ein Vergnügen, „aber ich erinnere mich auch an Nächte, in denen der Schnee bis an mein Bett heranreichte“. Wenn es regnet, hagelt oder schneit, rollt sie die Plane aus, die über dem Bett an der Hauswand festgemacht ist. Sie reicht dann bis auf den Boden. „Wie ein Zelt.“
„Nichts kann so interessant sein wie das, was ich hier draußen erleben darf.“
Britta B., Waldliebhaberin
Warum nimmt sie nicht eins von mehreren Schlafzimmern im Haus, in denen sie, ihre Schwester, ihre Eltern und während des Zweiten Weltkrieges auch eine Flüchtlingsfamilie geschlafen hatten? Die Waldfrau fängt an zu schwärmen. „In die Natur integriert sein. Nachts aufwachen und die Sterne über mir sehen, die Käuzchen hören, die Siebenschläfer, die über meinem Bett herumlaufen: Nichts auf der Welt kann so liebenswert und interessant sein wie das, was ich hier draußen erleben darf.“
Hat sie keine Angst, allein im Wald? „Wer soll mir altem Weib denn noch was tun?“, sagt sie lachend. „Und wer soll überhaupt hier rauskommen? In der Stadt ist es doch viel gefährlicher.“ Die 90-Jährige denkt logisch. Wenn sie ein Geräusch hört, ist es mit großer Wahrscheinlichkeit nur der Wind oder ein harmloses Tier.

Die Rentnerin war zweimal verheiratet, lebte wie ihre Eltern lange in München, später auch in Brüssel, im Gespräch mit Fremden ist ihr ursprünglich bairischer Dialekt kaum zu hören. Sie mochte es auch in der Stadt, „aber ich habe die Natur sehr vermisst“. Als sie vor einem Vierteljahrhundert in den Wald gezogen ist - ihr zweiter Mann war gestorben, die drei Kinder längst erwachsen - ließ sie erst einmal renovieren. Sie führt ins Bad, die grünen Fliesen erinnern an einen Waldsee, mit einem ovalen Fenster auf der Ostseite, durch das morgens die Sonne scheint. „Das Bad habe ich neu machen und vergrößern lassen, dazu eine neue Küche, und ich ließ das Dach neu decken.“ Auf dem Esstisch steht schon ihr Mittagessen, ein karges Mahl aus Banane, Joghurt, fünf Walnüssen und einer Schale Heidelbeeren. So ähnlich isst sie es jeden Tag.

„Ich brauche doch nur noch Erhaltungsfutter“, meint sie lachend und ist überzeugt davon, dass ihre Ernährung und vor allem die viele Zeit draußen ihr Gedächtnis am Laufen halten und sie in die Lage versetzen, auch mit 90 noch jeden Herbst aufs Dach zu steigen und das Laub herunterzukehren. „Aber ich bin keine Kostverächterin“, betont sie. Aus der alten Kinderwiege, in der sie einst schlief, hat sie eine kleine Bar für Gäste gemacht. An vielen Möbeln hängen Erinnerungen, an dem hölzernen, mit Heiligenszenen verzierten Schrank ihres Vaters in der Diele, dem Sekretär ihrer Mutter im Obergeschoss.
Auch im Haus hat Britta B. überall Pflanzen, an manchen Fenstern ist kaum zu erkennen, wo das Haus aufhört und die Natur anfängt. Die Rentnerin geht auf den Balkon und schaut hinauf zu den Baumwipfeln. „Als mein Vater hier gebaut hat, waren das noch kleine Fichterl.“ Fichten lässt sie schon lange nicht mehr pflanzen, sie vertragen den Klimawandel nicht. Heute ist rund ums Haus ein dichter Mischwald. Und sie selbst ist ein Teil davon.
Um kommentieren zu können, müssen Sie angemeldet sein.
Registrieren sie sichSie haben ein Konto? Hier anmelden