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Wo Putin Zeichen der Schwäche aussendet – ein Gespräch mit Friedenspreisträger Karl Schlögel

Interview mit Allgäuer Historiker

Allgäuer Friedenspreisträger Schlögel: „Auch die Kräfte eines Meisterspielers wie Putin sind begrenzt“

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    Der Allgäuer Osteuropa-Historiker und Kulturwissenschaftler Karl Schlögel wird mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet.
    Der Allgäuer Osteuropa-Historiker und Kulturwissenschaftler Karl Schlögel wird mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet. Foto: David Young, dpa

    Herr Schlögel, Sie bereisten schon in jungen Jahren mitten im Kalten Krieg Osteuropa und die Sowjetunion. Wie kam es dazu?
    SCHLÖGEL: Ich komme aus einem Dorf im Allgäu. Nach dem Krieg sind in diesem Dorf sehr viele Flüchtlinge angekommen, die bei uns zum Teil auf dem Hof einquartiert waren. Diese Leute aus Schlesien, Mähren, Böhmen waren für mich als Kind sehr interessant. Mit denen hatte ich viel zu tun. Deswegen erfuhr ich, dass es noch was anderes außer Bayern und Bundesrepublik gab. In dem Internat, das ich besuchte, gab es dann die Möglichkeit, Russisch zu lernen, was in Bayern damals eine große Seltenheit war. Ich war früh, also 1965, mit einem Schulkameraden in Prag. Das war die erste Berührung mit einer Welt außerhalb der Bundesrepublik. Das Erlebnis wirkt bis heute nach. Für mich ist Prag bis heute die Metropole Mitteleuropas. Das war der Beginn.

    Und dann konnten Sie nicht mehr aufhören, in den Osten zu reisen?
    SCHLÖGEL: Ich bin nach der Schule mit einem Kommilitonen in einem R4 über Stockholm, Helsinki, Leningrad – damals noch so genannt - und Moskau bis zur iranischen Grenze gefahren. Wir hatten dort sehr viel viel Kontakt. Ich war aber auch sehr früh in den USA.

    Wissen Sie heute noch, wie oft Sie schon Osteuropa und Russland bereist haben?
    SCHLÖGEL: Ich habe das nicht gezählt. Ich habe noch keine autobiographischen Recherchen gemacht, weil ich immer noch nach vorne arbeite und an die nächsten Bücher denke. Ich entsinne mich nicht an die Zahlen, aber an Ereignisse. Auf dieser großen Reise 1966 merkte ich, dass die Welt jenseits des Eisernen Vorhangs weitergeht - mit einer Kultur und mit Menschen, die ungeheure Schicksale hinter sich hatten. Auf den Campingplätzen traf man Kriegsveteranen, die einen auf einen Wodka eingeladen haben. Der Krieg lag erst 20 Jahre zurück. Man hat in den großen Städten überall noch Verstümmelte gesehen, die auf Prothesen und Wägelchen rumrollten. Ich war jedes Jahr in Prag und habe die Entwicklung hin zum Prager Frühling erlebt. Das war für einen, der in der Studentenbewegung aktiv geworden war, sehr beeindruckend. In den 1980er Jahren bin ich dauerhaft in Moskau gewesen – zu einem Forschungsaufenthalt. Ich war an der Universität, habe dort meine ersten, und ich darf sagen auch originellen Bücher geschrieben, mein Moskau- und Petersburg-Buch, meine Studie über die russische Intelligenz. Und ich habe dort meine Frau kennengelernt. Unsere Tochter ist dort geboren. Wir haben die bewegten 80er Jahre der Zeit der Perestroika dort erlebt. In den 90er Jahren reiste ich viel hin und her. Ich war merkwürdigerweise immer in sogenannten historischen Augenblicken vor Ort, etwa im August 1991 während des Putsches. Plötzlich gab es Kundgebungen von Hunderttausenden von Menschen in Moskau, was es nie zuvor gegeben hat.

    Wann waren Sie das letzte Mal in Russland?
    SCHLÖGEL: Das war 2019. Ich fuhr nach Rostow am Don, weil ich sehen wollte, wie es auf der russischen Seite der Grenze aussieht. Abgesehen davon interessierte mich die Stadt sehr. Also das war mein letzter Besuch. Ich fahre nicht mehr, seit man in Moskau Geiseln nimmt, um Austauschmaterial zu gewinnen.

    Was bedeutet das für Sie als Wissenschaftler?
    SCHLÖGEL: Ich finde das eine enorme Einschränkung, weil ich auf Anschauung und persönlichen Eindruck angewiesen bin. Ich vertraue nicht nur den Fernsehbildern und nicht nur der Zeitung, obwohl deren Berichterstattung grundlegend ist.

    Für Sie war die Annexion der Krim ein großer Einschnitt?
    SCHLÖGEL: Ein sehr großer Einschnitt, weil ich unmittelbar mitbekommen habe, wie das ablief. Ich fuhr nach der Niederschlagung des Maidan hin, um mir einen Eindruck zu verschaffen, fuhr nach Charkiw, Kramatorsk, Donezk, Mariupol, Odessa und habe in diesen Tagen mitbekommen, wie ein Aufstand inszeniert wird. Ich habe in Donezk erlebt, wie eine große Industriestadt gekidnappt wird von Leuten, die von außen gekommen sind. Die Verwaltung einer friedlichen Stadt wurde erstürmt, während die Frauen mit ihren Kinderwagen über die Promenade spazierten.

    Ihre Reaktion darauf?
    SCHLÖGEL: Ich war schockiert. Das lag nicht so sehr an Putin. Ich hatte keine gute Meinung von ihm. Für mich war es die Erfahrung der unmittelbaren Gewalt, die ich zum ersten Mal gemacht habe. Zuvor hatte ich Gewalt und Krieg nur aus dem Fernsehen und dem Film gekannt. Und ich habe mich gefragt, warum dieses Russland, das ich ziemlich gut kannte, sich in diesen Krieg hat hineinführen lassen. Der Krieg gegen ein Volk, dem man so nah gewesen ist, verbunden über millionenfache Beziehungen von Familien, Freundschaften, Lebens- und Ausbildungswegen.

    Wie erleben Sie die Ukraine seit dem Ausbruch des Kriegs?
    SCHLÖGEL: Ich bin immer beeindruckt und gestärkt zurückgekommen. Wer von uns hat eine Ahnung, was dieser Krieg für die Menschen bedeutet? Wir können uns nicht vorstellen, wie man in diesen Hochhäusern, wo der Lift stillsteht und das Licht nicht mehr funktioniert, wie man dort über den Winter kommt. Ich bin beeindruckt, mit wie viel Disziplin die Menschen ihren Alltag aufrecht erhalten. Die Züge fahren pünktlich, die Metro fährt, der Schulunterricht läuft digital, die Menschen arbeiten. Ich bezeichne das als das Heldentum des Alltags.

    Wie erleben Sie die Reaktion in Deutschland auf den Krieg in der Ukraine?
    SCHLÖGEL: Ich war tief beeindruckt, wie die Deutschen sofort reagiert haben und Tausende und Zehntausende von Leuten aufgenommen und einquartiert haben. Man merkte ein instinktives Gerechtigkeitsgefühl. Die Frage ist, ob das andauert, ob man sich nicht an einen schrecklichen Krieg in der Nachbarschaft gewöhnt.

    Wie hat sich unser Umgang mit der Ukraine verändert?
    SCHLÖGEL: Er ist etwas Grundlegendes passiert. Bis 2014, für manche bis 2022, gab es die Ukraine im allgemeinen Bewusstsein der Deutschen gar nicht. Die Ukraine blieb weiter ein Teil Russlands, eine Art Hinterhof. Dass sie eine eigenständige Geschichte und Kultur hat und eine eigene Lebensweise, nimmt man erst jetzt wahr.

    Wie bewerten Sie den politischen Umgang mit dem Krieg?
    SCHLÖGEL: Bei aller Zögerlichkeit am Anfang hat das politische Establishment gelernt, dass dieser Krieg nicht irgendwo stattfindet, sondern nah ist. Dieser Krieg stellt auch für uns eine Gefahr dar. Wenn die Ukrainer sich ihrer Haut erwehren, tun sie das in gewisser Weise für uns als Vorfront. Man merkt, dass sich die russische Propaganda in Europa einmischt, dass sie in Deutschland aktiv ist. Sie will verhindern, dass die Deutschen und die anderen Europäer der Ukraine beistehen. Es gibt einen zunehmenden Realismus, dass man nur mit Standhaftigkeit und Widerstand der Gefahr, die von Putin ausgeht, entgegentreten kann.

    Wie beurteilen Sie die diplomatischen Bemühungen?
    SCHLÖGEL: Was wir in den letzten Wochen und Monaten erleben, sind die Grenzen der Diplomatie. Wer ist nicht für eine Friedensdiplomatie? Aber die Frage ist, ob es dafür einen Ansprechpartner gibt. Wie auf einer Bühne führt die russische Regierung vor, was sie davon hält: Während über eine Friedensregelung geredet wird, werden die ukrainischen Städte kaputt gebombt als Begleitmusik zum Treffen in Anchorage.

    Wird das auch ein Thema der Rede sein, die Sie bei der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels in der Paulskirche halten werden?
    SCHLÖGEL: Es gibt wahrscheinlich keinen anderen Ort, an dem seit 75 Jahren mehr über die Frage von Krieg und Frieden auf diese Weise nachgedacht worden ist. Ich möchte den Blick auf die Wirklichkeit richten und mich herantasten an die Frage, wie man aus der Falle eines sich steigernden Krieges herauskommen kann. Es geht mir auch darum, wie man eine angemessene Sprache der Beschreibung und Analyse findet.

    Haben Sie eine Hoffnung, dass es in absehbarer Zeit eine Möglichkeit auf Frieden gibt?
    SCHLÖGEL: Ich sehe nicht, dass der Krieg jetzt gestoppt wird. Im Gegenteil, Putin demonstriert Tag für Tag, dass er die Ukraine zerstören will. Für mich ist auch klar, dass die Ukrainer trotz aller Erschöpfung standhaft bleiben. Wie gut das gelingt, hängt auch an der Unterstützung der Europäer und Amerikaner.

    Es schaut also düster aus?
    SCHLÖGEL: Ja, aber man muss sich auch einen freien Blick bewahren. Auch die Kräfte eines Meisterspielers und Meisterchoreografen wie Putin sind begrenzt. Er vermeidet es, die jungen Männer in den Hauptstädten des Landes zu mobilisieren. Das ist ein Tabu. Er holt sich die Leute mit sehr hohen Gehältern auf dem Land und er holt sich Schwerverbrecher aus den Straflagern und Söldner aus Nordkorea. Das sind keine Zeichen von Stärke, sondern von Schwäche.

    Und nun noch einmal zurück zum Anfang und Ihrer Heimat, dem Allgäu. Haben Sie noch oft Kontakt nach Hawangen?
    SCHLÖGEL: Ich bin regelmäßig dort. Meine Familie lebt dort, die Verwandtschaft. Ich kenne die Dörfer, die Häuser, die Namen. Und ich verfolge die Entwicklung mit großem Interesse. Für mich ist das wie ein Ankerplatz, um zu messen, wie dieses Deutschland außerhalb der Zentren funktioniert. Ich bin beeindruckt von der Leistungskraft und von der Vitalität dieser sogenannten Provinz, die in meiner Lebenszeit eine ungeheure Verwandlung mitgemacht hat. Über die stille Revolution auf dem Land, habe ich auch geschrieben. Sie war auch schmerzhaft. In dem Dorf, aus dem ich stamme, gibt es statt 20 Höfen heute noch drei oder vier.

    Was fällt Ihnen bei diesem Blick und Vergleich noch auf?
    SCHLÖGEL: Zum Beispiel das Problem einer wuchernden Bürokratie, die meistens mit der EU in Verbindung gebracht wird. Es ist enorm, was man alles belegen und beweisen muss. Zum Teil sind die Auflagen absurd. Oder die Veränderung in den Wirtshäusern, die einmal zentral gewesen sind. In meiner Erinnerung ist dort früher das ganze Dorf zusammengekommen. Jetzt ist es so, dass häufig die Leute auf dem Dorf wohnen, aber zur Arbeit in die Stadt fahren und sich zum Teil nicht mehr kennen.

    Und wo ist Ihr Dialekt geblieben?
    SCHLÖGEL: Das ist eine gute Frage. Ich habe bereits Hochdeutsch gesprochen, bevor ich auf dem Gymnasium war. Meine Erklärung dafür ist, dass ich mir das bei den ins Dorf gekommenen Flüchtlingen abgeschaut habe. Mich hat fasziniert, dass sie anders waren. Im Dorf gab es natürlich die Meinung, dass ich etwas Besseres sein wollte, aber damit hatte das überhaupt nichts zu tun.

    Allgäu, Bauernhof, Benediktinergymnasium - Pfarrer. Stand das bei Ihnen nie zur Debatte?
    SCHLÖGEL: Doch. Das war in diesen größeren Bauernfamilien so. Es gab denjenigen, der den Hof übernimmt. Und der zweite wird Geistlicher. Oder Arzt. Oder Architekt. Oder Tierarzt. Oder Lehrer. Das ist einer der Gründe, warum ich auf das Gymnasium kam. Und ich muss sagen: Es war die beste Schule, die ich mir denken konnte. Ich verdanke ihr viel.

    Nur Pfarrer sind Sie nicht geworden.
    SCHLÖGEL: Das hat sich dann für einen 1968er nicht ergeben. Aber mir ist diese kirchliche, klösterliche Welt ungemein vertraut.

    Zur Person

    Karl Schlögel, 1948 in Hawangen geboren, ist ein deutscher Osteuropahistoriker und Publizist. Er war Hochschullehrer in Konstanz und Frankfurt (Oder). Wichtige Bücher von ihm sind unter anderem „Das sowjetische Jahrhundert“, „Terror und Traum – Moskau 1937“, „Der Duft der Imperien“, „American Matrix“ und „Im Raume lesen wir die Zeit“. Im Oktober erscheint bei Hanser „Auf der Sandbank der Zeit. Der Historiker als Chronist der Gegenwart“. Im Oktober bekommt Schlögel außerdem den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen.

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