Wenn es nötig ist, wolle sie bis zur letzten Instanz gehen, ein Aufgeben kommt für Dörte Sittig nicht infrage. Ums Geld, also um Schadenersatz, gehe es ihr nicht, zumindest nicht in erster Linie. „Anders als bei mir gibt es aber zahlreiche Ischgl-Opfer, die sehr wohl auf das Geld angewiesen sind“, sagt die Frau, die im vergangenen Jahr ihren Lebensgefährten verloren hat. Er infizierte sich im inzwischen europaweit, wenn nicht weltweit bekannten Skisportort im Tiroler Paznauntal mit dem Coronavirus, erkrankte schwer und starb.
Sittigs Fall ist einer von inzwischen 40 weiteren, die der Verbraucherschutzverein (VSV) des Konsumentenschützers und Ex-Politikers Peter Kolba mittels Amtshaftungsklagen beim Landesgericht für Zivilrechtssachen in Wien eingebracht hat. Der VSV vertritt tausende Ischgl-Opfer aus ganz Europa, der größte Teil davon sind Deutsche. Mehr zur Corona-Krise im Newsblog der Allgäuer Zeitung.
Fünf Gerichtstermine hat es in Wien bisher gegeben - aus Sicht der Ischgl-Opfer verliefen sie nicht gut
Fünf Gerichtstermine hat es in Wien bisher gegeben – und für Peter Kolba, AnwaltAlexander Klauser und die Betroffenen sind diese nicht besonders gut gelaufen. An allen fünf Terminen schloss die jeweilige Richterin die Verhandlung nach wenigen Stunden, die Beweisanträge der Kläger, unter anderem auf Zeugeneinvernahme, wies das Gericht allesamt ab. Die erstinstanzlichen Urteile werden schriftlich ergehen – und anders als es bei vergleichbaren Fällen in Deutschland wäre, gibt es in Österreich kein festgesetztes Datum für die Urteilssprüche.
Auf dutzende monate- oder jahrelange Einzelverfahren will sich das Gericht dabei offenbar nicht erst einlassen. Am 13. Dezember – ihr ursprünglicher Termin wurde wegen einer Erkrankung der Richterin verschoben – wird nun Dörte Sittigs Fall verhandelt werden. Und es ist unwahrscheinlich, dass es in ihrem Verfahren anders laufen könnte.
An ihre Ankündigungen schriftlicher Urteile seien die Richterinnen selbst nicht gebunden, sagt Verbraucherschützer Peter Kolba im Gespräch mit unserer Redaktion. „Theoretisch können die Richterinnen auch per Beschluss das Beweisverfahren neu eröffnen“ – daran aber glaube er ebenso wenig wie daran, dass in den Urteilen bereits ein Schadenersatzanspruch zugesprochen werde.
Konsumentenschützer Peter Kolba rechnet mit dem Weg durch die Instanzen - und letztlich einer Entscheidung des Obersten Gerichtshofs
Viel wahrscheinlicher, sagt Kolba, sei, dass die Klagen abgewiesen würden – schließlich gehe es um die Klärung einer zentralen Rechtsfrage: nämlich der, ob das damals geltende Epidemiegesetz nicht nur die Allgemeinheit, sondern auch Einzelpersonen schütze. Diese Frage, juristisch zentral für die Einschätzung, ob ein Schadenersatzanspruch besteht oder nicht, muss dann der Instanzenweg, zum Schluss der Oberste Gerichtshof (OGH), klären. „Dahingehend hat die Richterin im ersten Verfahren im September auch argumentiert“, sagt der VSV-Obmann. Er rechnet damit, dass es rund zwei Jahre dauern könnte, bis diese Frage höchstgerichtlich entschieden sein wird. Eine juristische „Abkürzung“ zur Klärung einer zentralen Rechtsfrage, wie dies in Deutschland mit einer sogenannten Sprungrevision möglich ist, gibt es in Österreich nicht.
„Eine Abweisung der Klagen werden wir selbstverständlich per Rechtsmittel beeinspruchen. Dann ist als nächste Instanz das Oberlandesgericht am Zug“, sagt Kolba. Und es sei egal, ob dort dann der VSV oder die Finanzprokuratur, die als Anwältin der Republik Österreich agiert, recht bekäme – schließlich lande der Fall eben beim OGH. Kolba glaubt noch immer daran, dass die Republik Österreich sich letztendlich zu einem Vergleich entschließen könnte: „Wenn Schadenersatzansprüche festgestellt werden, würde das für weitere Geschädigte Signalwirkung haben. Für die Finanzprokuratur wäre dann ein Vergleich der günstigere und bessere Weg“, sagt er.
Dass das Gericht sich weigere, Zeugen zu vernehmen, wertet Kolba trotzdem als „Vertuschungsversuch“. Weil über Teile der damals im Krisenstab in Wien getroffenen Entscheidungen zu Ischgl kein Protokoll geführt wurde, sei es zur Aufklärung zwingend nötig, die damaligen Amtsträger zu vernehmen.
Dörte Sittig sagt: „Es war das Schlimmste, was mir in meinem Leben je passiert ist.“
Am wichtigsten seien dabei: Tirols Landeshauptmann Günther Platter, Ex-Bundeskanzler Sebastian Kurz, mit dem dieser damals telefoniert habe, ÖVP-Innenminister Karl Nehammer sowie der ehemalige grüne Gesundheitsminister Rudolf Anschober. Die Zeugenliste sei aber noch viel länger. „Prinzipiell haben wir tausende in Ischgl Geschädigte als Zeugen nominiert“, sagt Kolba. Zumindest einige von ihnen zu befragen, sei für den sogenannten Anscheinsbeweis wichtig – den braucht es, um die Ansteckungen in Ischgl und damit das schuldhafte Verhalten der Behörden nachzuweisen.
Sie könne natürlich nicht in die Glaskugel schauen, wie das alles weitergehen werde, sagt dazu Dörte Sittig. Sie sei sich allerdings sicher: Die Behörden, das Land Tirol und der österreichische Staat hätten Schuld auf sich geladen in jenem März 2020 in Ischgl. Nie habe es ein Wort der Entschuldigung gegeben. Oder ein Eingeständnis des Versagens, betont sie. Und darum gehe es ihr letzten Endes. Dass sie heute wieder „einigermaßen ruhig und distanziert“ über all das reden könne, sei auch der Therapie zu verdanken, die sie absolviert habe. „Es war das Schlimmste, was mir in meinem Leben je passiert ist“, sagt Sittig über das vergangene Jahr.