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Musik-Professor: "Der ESC ist nicht per se politisch"

Interview

Musik-Professor: "Der ESC ist nicht per se politisch"

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    Jamala aus der Ukraine gewann 2016 den ESC mit ihrem Song "1944".
    Jamala aus der Ukraine gewann 2016 den ESC mit ihrem Song "1944". Foto: Britta Pedersen, dpa (Archivbild)

    Herr Wickström, das „politische Lied“ scheint spätestens mit dem Krieg Russlands gegen die Ukraine zurück zu sein: An diesem Freitagmorgen spielten auf Initiative des öffentlich-rechtlichen Senders rbb hunderte Radiosender in mehr als 25 europäischen Ländern um 8.45 Uhr den Lennon-Song „Give Peace A Chance“ aus dem Jahr 1969.

    David-Emil Wickström: Lieder spielen bei Revolutionen oder Umbrüchen immer eine gewisse Rolle. Das sehen wir jetzt auch wieder.

    Eignet sich „Give Peace A Chance“ überhaupt als Kommentar zur aktuellen Lage?

    Wickström: Es ist zumindest ein Anti-Kriegs-Lied. Aber dem Frieden eine Chance geben? Im Falle des Ukraine-Kriegs ist die Entwicklung ja fortgeschritten. Wir haben es mit einem Angriffskrieg Russlands zu tun, und es sieht nicht danach aus, dass der russische Präsident Wladimir Putin Frieden will. Insofern hätte sich vielleicht „Imagine“ von John Lennon besser geeignet.

    Was genau macht einen Song eigentlich „politisch“?

    Wickström: Musik ist zunächst einmal ein Zeichensystem und hat keine intrinsische Bedeutung. Wenn ich singe: La-la-la, dann sind das drei Töne. Es ist so, dass wir Zuhörer der Musik eine Bedeutung geben. Politisch wird es, wenn eine Künstlerin oder ein Künstler etwas Politisches in seine Musik hineinlegt und es Zuhörende entschlüsseln können. Das geht am einfachsten über den Text. Es ist aber auch musikalisch möglich.

    Haben Sie dafür ein Beispiel?

    Wickström: Man könnte zum Beispiel die sowjetische Hymne als Zitat in ein Stück einbauen. Dies müssen Zuhörende jedoch erkennen, um es gegebenenfalls als politisch wahrnehmen zu können. An dem Beispiel ist interessant: Die heutige russische Nationalhymne ist im Endeffekt die frühere sowjetische Hymne. Russen, die so alt sind wie ich oder älter, wissen das. Noch ältere Russen haben beim Hören die Textzeilen, in denen Stalin und Lenin auftauchen, im Gedächtnis. Die Hymne wurde in den 70er Jahren davon bereinigt und nach dem Ende der Sowjetunion entfiel dann der sowjetische Text. Ein ähnlicher Mechanismus ist bei „Give Peace A Chance“ zu beobachten: Ältere verbinden mit dem Song noch den Vietnamkrieg und haben eine Reihe anderer Assoziationen. Für Jüngere fällt das alles weg – sie verstehen „Give Peace A Chance“ als Friedenslied.

    Die Europäische Rundfunkunion (EBU) – ein staatenübergreifender, nicht politischer Zusammenschluss von Rundfunkanstalten aus aller Welt – hatte die Lennon-Aktion angekündigt. Bekannt ist die EBU vor allem für den „Eurovision Song Contest“ (ESC), den sie seit 1956 veranstaltet. Wie finden Sie es, dass die EBU Russland vom diesjährigen ESC ausgeschlossen hat?

    Wickström: In ihren Regeln steht, dass die ESC-Beiträge textlich nicht politisch sein dürfen, das gilt auch für die Auftritte. Die Beiträge sollen auch den Wettbewerb nicht beschädigen. Lieder wurden schon öfter disqualifiziert. Dass ein Land an sich ausgeschlossen wird, kommt sehr selten vor. Ich kann es vor dem Hintergrund des Ukraine-Kriegs aber verstehen.

    Das ESC-Finale ist für den 14. Mai in Turin vorgesehen. Könnte es sein, dass es zur Bühne für politische Botschaften wird? Dass Politik den Musikwettbewerb überlagert?

    Wickström: Wenn ich in die Vergangenheit des ESC blicke, würde ich sagen: eher nein. Die Veranstaltung war etwa nach der völkerrechtswidrigen Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim 2014 durch Russland oder zuvor nach dem Russland-Georgienkrieg 2008 eine reine Showveranstaltung. Ich vermute auch, dass die EBU darauf achten wird, dass der Song Contest möglichst unpolitisch wird.

    2016 aber gewann Sängerin Jamala für die Ukraine. Sie sang über das Jahr 1944, in dem Sowjet-Diktator Josef Stalin die Krimtataren nach Zentralasien deportieren ließ.

    Wickström: Damals hat man argumentiert, dass es um einen historischen Inhalt gehe. Es gehe um ihre Vorfahren. Daher konnte sie am Wettbewerb teilnehmen. Ein Politikum war ihr Beitrag sehr wohl.

    War der ESC nicht von Beginn an im Grunde immer auch politisch? 1968 zum Beispiel, als der Tscheche Karel Gott für Österreich antrat. In seinem Lied „Tausend Fenster“ sah man eine Unterstützung der Reformbewegung des Prager Frühlings in der damaligen Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik.

    Wickström: Im Falle von Karel Gott war das ein politisches Statement von Österreich. Wie 1969, als der ESC in Madrid war. Damals boykottierte Österreich den Wettbewerb, weil Spanien von Diktator Franco beherrscht wurde.

    Da ging es also weniger um die Lieder ...

    Wickström: ... sondern um eine politische Geste, genau.

    Während Karel Gott nur 13. wurde, gewann 1982 mit Nicole erstmals ein deutscher Beitrag den ESC: „Ein bißchen Frieden“. Es war die Zeit des Kalten Kriegs– und der Anti-Atomkraft- und Umweltbewegung.

    Wickström: „Ein bißchen Frieden“ passte damit sehr gut in die Zeit. Übrigens schickte damals Spanien mit Sängerin Lucía und ihrem Lied „Él“ einen Tango in den Wettbewerb. Das ließ sich als Unterstützung für Argentinien verstehen. Wenige Wochen zuvor hatte Anfang April der Falklandkrieg zwischen Argentinien und dem Vereinigten Königreich um die Falklandinseln begonnen. Wir reden hier allerdings von Jahrzehnten ESC-Geschichte und von einzelnen Beiträgen. Ich würde nicht sagen, dass der ESC per se politisch ist. Es geht schon auch um die Musik. Und die ist eine Geschmacksfrage.

    Die Gruppe Dschinghis Khan wurde 1979 mit dem gleichnamigen Lied und wild verkleidet Vierter: „Sie ritten um die Wette mit dem Steppenwind, tausend Mann / Und einer ritt voran, dem folgten alle blind, Dschinghis Khan / Die Hufe ihrer Pferde, die peitschen den Sand / Sie trugen Angst und Schrecken in jedes Land / Und weder Blitz noch Donner hielt sie auf / Dsching, Dsching, Dschinghis Khan / He Reiter, Ho Leute, He Reiter, Immer weiter!“

    Wickström: Soll das politisch sein – oder ist es einfach nur eine Persiflage? Sehen Sie: Es gibt immer verschiedene Ebenen, und jeder Beitrag ist unterschiedlich. Aber offensichtlich politisch, mit einer klaren politischen Botschaft, ist „Dschinghis Khan“ jedenfalls nicht.

    Zum Politikum wurde in Deutschland immer wieder, dass sich der „Ostblock“ bei der Wahl des Siegertitels gegenseitig Stimmen zuschanze, sodass westliche Künstlerinnen und Künstler keine Chance hätten, wie es regelmäßig hieß.

    Wickström: Das könnte man dann auch über die skandinavischen Länder sagen. Nein, ich glaube nicht, dass das zutrifft. Es geht hierbei vielmehr um musikalische Präferenzen. Darum, wo einer aufwuchs, und welche Musiktraditionen einer kennt. Das Vertraute gefällt dann womöglich besser. Was ich spannend fand: Als man zeigte, wie Jury und Zuschauer jeweils wählten, sah man zum Beispiel klar, dass Ukrainer für Russen und Russen für Ukrainer stimmten beim Publikumsvoting– die Jurys dagegen vergaben keine Punkte gegenseitig.

    Zum deutschen Vorentscheid treten an diesem Freitagabend sechs Musik-Acts an. Haben Sie einen Favoriten?

    Wickström: Meine persönlichen Favoriten sind Emily Roberts mit „Soap“ sowie Maël & Jonas mit „I Swear To God“. Maël & Jonas sind auch die Favoriten meiner 15-jährigen Tochter und ihrer Freundinnen und Freunde. Das Stück, das für mich am meisten zum ESC passt, ist aber Malik Harris mit „Rockstars“. Ich bin sehr gespannt auf die Ergebnisse.

    Zur Person: Prof. Dr. David-Emil Wickström ist 43 und wuchs in Norwegen, Österreich und Deutschland auf. Seine Mutter ist US-Amerikanerin, sein Vater Schwede. Er hat an der Popakademie Baden-Württemberg, einer staatlichen Hochschuleinrichtung mit Sitz in Mannheim, die Professur für Geschichte der Populären Musik inne. Wickström studierte Musikwissenschaft, Ethnomusikologie und Skandinavistik. Er promovierte in Dänemarküber post-sowjetische Musik und ist Mitverfasser des Buchs „A War of Songs – Popular Music and Recent Russia-Ukraine Relations“, das 2019 erschien.

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