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US-Präsident Joe Biden wird in Afghanistan zum Kriegsherren wider Willen

Analyse zu Afghanistan

US-Präsident Joe Biden wird in Afghanistan zum Kriegsherren wider Willen

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    Joe Biden, Präsident der USA, hält inne, als er im Weißen Haus nach dem tödlichen Anschlag in der Nähe des Flughafens von Kabul spricht.
    Joe Biden, Präsident der USA, hält inne, als er im Weißen Haus nach dem tödlichen Anschlag in der Nähe des Flughafens von Kabul spricht. Foto: Evan Vucci, dpa

    Es ist nicht so, dass Joe Biden nicht vorbereitet gewesen wäre. Wenn man dem Präsidenten in den vergangenen Tagen genau zugehört hat, dann hat der mächtigste Mann der Welt seine Bürger vorsichtig auf diesen Moment der Ohnmacht und der Trauer eingestimmt. "Ich kann nicht garantieren, dass der Ausgang ohne Risiko oder Verluste sein wird", hat er am vergangenen Freitag gesagt. Am Sonntag warnte er offen, dass Terroristen einen Anschlag auf Zivilisten und Soldaten am Kabuler Flughafen verüben könnten: "Eine Menge kann noch schiefgehen."

    Terror am Flughafen: In Kabul ist die abstrakte Gefahr Realität geworden

    Doch nun, da die abstrakte Gefahr zur Realität geworden ist und die Fernsehstationen seit Stunden Bilder von blutüberströmten Menschen vor dem Tor des Airports zeigen, die auf Bahren transportiert oder in Schubkarren weggefahren werden, fühlt es sich doch anders an. Es war kurz vor zehn Uhr am Donnerstagmorgen in Washington, als der Pentagon-Sprecher erstmals eine Explosion bestätigte. Erst ist von drei verwundeten US-Soldaten die Rede. Doch bis zum späten Nachmittag, als Biden ans Rednerpult im East Room des Weißen Hauses tritt, ist aus einem Zwischenfall, wie er in Kabul jahrelang quasi zur Tagesordnung gehörte, ein Drama geworden, das die Präsidentschaft des 78-Jährigen überschatten dürfte.

    Mehrere Selbstmordattentäter der islamistischen Terrormiliz IS haben mindestens 73 Menschen - darunter 13 Angehörige des US-Militärs - in den Tod gebombt. Ein Blutbad dieses Ausmaßes hat es in Afghanistan, wo seit mehr als einem Jahr kein amerikanischer Soldat mehr ums Leben kam, schon lange nicht mehr gegeben (alle Entwicklungen zu Afghanistan lesen Sie hier in unserem Newsblog).

    20 Jahre Krieg der USA: Insgesamt 2400 tote US-Soldaten in Afghanistan

    Seit dem Beginn des Kriegs vor 20 Jahren sind insgesamt 2400 US-Soldaten zu Tode gekommen. In der Innentasche seiner Anzugjacke trägt Joe Biden seit seinem Amtseintritt eine Karte bei sich, auf der die genauen Opferzahlen vermerkt sind. Schon lange sieht der demokratische Politiker den Afghanistankrieg kritisch. Mit der Entscheidung zum Truppenabzug wollte er eigentlich das unnötige Leid beenden. Nun muss er die Todesfall-Statistik nach oben korrigieren.

    Von der beinahe brutalen Nüchternheit und Kühle, mit der der Präsident seit Mitte des Monats seine Entscheidung zur überstürzten Beendigung des Einsatzes begründet und Kritik an der chaotischen Durchführung zurückgewiesen hat, ist nichts zu spüren, als Biden nun das Wort ergreift. "Es war ein harter Tag", beginnt er seine Ansprache mit belegter Stimme. Mehrmals verhaspelt er sich anfangs. "Aufgebracht und todunglücklich" seien seine Frau Jill und er, sagt er und spricht den Angehörigen der getöteten "Helden" sein Beileid aus. Da stehen Tränen in seinen Augen.

    US-Präsident Biden: "Wir werden Euch jagen und Euch dafür zahlen lassen"

    Doch nach kurzer Zeit findet Biden in die Rolle des Oberkommandierenden zurück. Mit scharfem Ton droht er den Verantwortlichen des Massakers blutige Vergeltung an: "Wir werden Euch nicht vergeben. Wir werden nicht vergessen. Wir werden Euch jagen und Euch dafür zahlen lassen." Zuvor hat General Kenneth McKenzie, der Kommandeur des US-Zentralkommandos Centcom, gesagt, man habe eine Ahnung, wo sich die Hintermänner des Anschlags aufhalten. Ob es sich dabei um substanzielle Informationen handelt, bleibt unklar.

    Biden hat sich den ganzen Tag mit seinen Sicherheitsberatern und Militärs konsultiert. Gemeinsam, berichtet der Präsident, habe man entschieden, dass die Evakuierungsaktion wie geplant fortgesetzt werden soll: "Wir lassen uns nicht durch Terroristen abschrecken." Mehr als 100.000 Menschen haben die Amerikaner und ihre Verbündeten seit dem Fall Kabuls am 14. August aus Afghanistan ausgeflogen. , vor dessen Südtor sich die blutigen Anschläge ereigneten, haben sie eine der größten Luftbrücken der Geschichte aus dem Boden gestampft.

    Der US-Präsident trägt die politische Verantwortung für ein Dutzend Tote

    So beeindruckend sind die Zahlen der in den vergangenen Tagen geretteten Menschen, dass mancher Kommentator in den USA trotz der massiven medialen Kritik an der verschleppten Visa-Ausstellung und dem Chaos rund um den Flughafen schon mutmaßte, langfristig könne Biden bei den kriegsmüden Amerikanern vielleicht doch damit punkten, dass er den Einsatz in Afghanistan nach 20 Jahren rasch beendete. Im Grunde hat der rasante Kollaps der afghanischen Armee auch Bidens Argument bestätigt, dass die Schlacht am Hindukusch nicht zu gewinnen sei. Der Terroranschlag vom Donnerstag wiederum stärkt sein Argument, dass es zu gefährlich sei, die Truppen noch länger als bis zum vereinbarten Abzugsdatum am 31. August im Lande zu lassen.

    Das alles hätte vielleicht funktioniert, wenn es keine größeren Zwischenfälle gegeben hätte. Doch nun trägt der Präsident die politische Verantwortung für mehr als ein Dutzend toter Amerikaner und eine Mission, deren Verlauf ganz offensichtlich nicht mehr in Washington entschieden wird. Viel spricht dafür, dass die Attentäter durch die äußere Personenkontrolle geschlüpft sind, die eigentlich von den Taliban vorgenommen werden soll, auch wenn Biden eine konzertierte Aktion wegen der Feindschaft zwischen den beiden Gruppen ausschließt. Immer klarer ist auch, dass die Amerikaner nicht nur Zehntausende afghanische Ortskräfte, sondern auch zahlreniche Landsleute zurücklassen müssen. Rund 1000 US-Bürger sollen sich noch im Land aufhalten, der Großteil will raus, doch viele kommen derzeit nicht zum Flughafen.

    Mahnwache Afghanistan Obstmarkt
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    Mit Plakaten und Reden machen die Kaufbeurer am Samstag auf die derzeitige Situation der Menschen in Afghanistan aufmerksam.

    USA drohen mit Vergeltung: Die Jagd auf die IS-Attentäter wird weitergehen

    "Ich kenne keinen Konflikt der Geschichte, bei dem man am Ende eines Krieges jedem, der herauskommen will, dafür eine Garantie geben kann", verteidigt sich der Präsident. Und als die Reporter kritisch nachhaken, legt er noch einmal seine Grundsatzentscheidung dar: Beim Einsatz in Afghanistan sei es ursprünglich darum gegangen, den für den Terroranschlag vom 11. September verantwortlichen Osama bin Laden auszuschalten und zu verhindern, dass die Terrororganisation Al-Kaida das Land weiter als Basis für ihre tödlichen Aktivitäten nutze. Beides sei erreicht: "Ich glaube nicht, dass man hier ein demokratisches System aufbauen kann." Deshalb habe es zur Umsetzung des von seinem Vorgänger Donald Trump vereinbarten Abzugs nur eine Alternative gegeben: "Ich hätte noch einmal tausende Soldaten schicken und erneut einen Krieg führen müssen."

    Das wollte und das will Joe Biden erkennbar nicht. "Es war Zeit, einen 20-jährigen Krieg zu beenden", sagt er mit fester Stimme, bevor er das Rednerpult verlässt und durch eine Tür des Saals verschwindet. Den Konflikt am Hindukusch freilich kann er nicht so einfach hinter sich lassen. Nicht nur wird nach dem Abzug der rund 6000 US-Soldaten am 31. August die Jagd auf die IS-Attentäter weitergehen. Auch deutet der Präsident an, dass mit Geheimdienstaktionen in den kommenden Woche und Monaten möglichst viele der im Land zurückgebliebenen Amerikaner aus Afghanistan gebracht werden sollen. (Lesen Sie auch: Seebrücke Kempten fordert von Oberbürgermeister Thomas Kiechle Hilfe für Afghanen)

    Am Flughafen in Kabul droht in den kommenden Tagen große Gefahr

    Die verbleibenden vier Tage bis zum offiziellen Einsatzende dürften nun zur gefährlichsten Phase der Mission werden. Ganz offen spricht der per Video zugeschaltete General McKenzie bei einer Pressekonferenz im Pentagon über die drohenden Gefahren: Statt wie am Donnerstag Sprengstoffwesten zu verwenden könnten die IS-Terroristen auch ein Auto in die Menschenmenge vor dem Flughafen steuern und detonieren lassen. Der Alptraum aber wäre, dass sie mit einer Boden-Luft-Rakete ein Flugzeug mit Flüchtenden vom Himmel holen.

    Noch glaube man, dass die Terrormiliz solche Waffen nicht habe, sagt der General. Aber genau wissen könne man das nicht. Relativ sicher hingegen sagt McKenzie ein bedrückendes Wochenende voraus: "Wir erwarten, dass die Anschläge fortgesetzt werden." Plötzlich bekommt die Floskel "May God protect our troops" (Möge Gott unsere Truppen beschützen), mit der Joe Biden regelmäßig seine Reden beschließt, einen beklemmend konkreten Sinn.

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