Herr Masala, wir steuern schon bald auf das dritte Kriegsjahr in der Ukraine zu. Wie lange wird dieser Krieg noch anhalten?
CARLO MASALA: Das hängt im Wesentlichen davon ab, ob die Staaten, die die Ukraine unterstützen, ihre materielle Hilfe erhöhen. Momentan sinkt sie sogar, und das verschlechtert für die Ukrainer die Chancen, Widerstand gegen die russische Invasion zu leisten. Krieg ist ein Chamäleon, man kann ihn nicht vorhersagen. Aber wenn Sie sich anschauen, wie die Ukrainer trotz der Nachteile, die sie haben, personell und materiell, ihr Territorium verteidigen und wie hoch die russischen Verluste sind, dann können Sie daraus schlussfolgern, dass dieser Krieg 2025 weitergehen wird, wenn die Ukrainer jetzt das bekommen, was sie brauchen.
Was wäre das optimale Szenario aus Ihrer Sicht? Also ab welchem Punkt könnte man Russland so unter Druck setzen, dass Putin zu Verhandlungen bereit wäre?
MASALA: Wenn bei Russland Materialermüdung eintritt – also etwa die Panzer ausgehen. Das könnte nach Ansicht von Leuten, die sich damit beschäftigen, 2026 passieren. Dann besteht die realistische Chance, dass Russland an den Verhandlungstisch kommt. Ohne Maximalforderungen.
Aber die Soldaten gehen den Russen nicht aus.
MASALA: Naja, Russland ist ein Land mit 140 Millionen Einwohnern. Aber tatsächlich versucht Russland, vor allem Ausländer zu mobilisieren. Um seine Streitkräfte massiv zu erhöhen, müsste Wladimir Putin eine zweite offizielle Mobilisierungswelle in Russland beginnen. Davor scheut er im Moment zurück.
Wäre der Taurus eine Waffe, die in diesem Krieg alles verändern könnte?
MASALA: Nein, keine einzige Waffe kann das. Waffen hängen immer davon ab, wie sie eingesetzt werden. Der Taurus wäre wichtig, um russische Munitionsdepots und Kommandozentralen in Russland zu zerstören.
Noch bleibt der Kanzler hart, was die Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern angeht.
MASALA: Ich gehe davon aus, dass der Kanzler Taurus nicht liefern wird. Er hat sich festgelegt. Er ist in einer innenpolitisch schwierigen Situation: In seiner Partei wird das abgelehnt und von einer Mehrheit der Bevölkerung auch. Von daher glaube ich nicht, dass Scholz seine Meinung ändert.
CDU-Chef Friedrich Merz hat kürzlich gefordert, die Taurus-Lieferung an ein Ultimatum an Russland zu knüpfen: Greift ihr zivile Ziele an, liefern wir den Taurus. Finden Sie das richtig?
MASALA: Meines Erachtens ist das der richtige Weg, weil es ein strategischer Weg ist. Wir haben in den letzten zweieinhalb Jahren Russland im Prinzip freie Hand bei der Kriegsführung in der Ukraine gelassen. Wir haben Russland nie gedroht, dass wir antworten würden, wenn Russland bestimmte Dinge tut. Dem Vorschlag von Merz liegt schon die richtige Logik zugrunde.
Sie sind regelmäßig in der Ukraine. Wie ist die Moral bei der Truppe?
MASALA: Das hängt immer davon ab, wo Sie gerade sind. In einigen Teilen der Front ist sie schlecht. Im Osten gibt es Einheiten, die nur noch zu 25 bis 30 Prozent befüllt sind, in denen die Leute seit anderthalb Jahren nicht rotieren konnten, in denen das Material fehlt...
Nordkorea soll Russland inzwischen mit Soldaten unterstützen. Wie international ist dieser Krieg inzwischen?
MASALA: Es sind wohl nordkoreanische Soldaten in Russland, wir wissen aber nicht, wofür sie da sind. Russland bekommt militärische Unterstützung aus dem Iran. China hilft bei der Produktion von Waffen. Und Nordkorea schickt jetzt offenbar Soldaten. Damit sehen Sie, dass der Krieg natürlich internationalisiert ist. Die sogenannte Achse des Widerstandes hilft Russland dabei, diesen Krieg zu führen.
Wolodymyr Selenskyj hat gerade seinen Siegesplan vorgestellt. Könnte der aufgehen?
MASALA: Nein, er geht nicht auf. In der zentralen Frage, nämlich der nach der Erlaubnis des Einsatzes weitreichender Waffensysteme gegen Ziele in Russland, bewegen sich die USA nicht, genauso wenig wie Deutschland, Frankreich und Großbritannien. Man hört, dass möglicherweise Bewegung reinkommt bei der Frage, ob man den Ukrainern einen Nato-Beitritt gewähren sollte. Aber da bleibt abzuwarten, was aus dieser Bewegung wird. Ich glaube, Selenskyj hat diesen Siegesplan präsentiert, weil er Druck bekommt aus Washington, aus Berlin und aus anderen Städten, sich auf Verhandlungen zuzubewegen. Mit dem Siegesplan sagt er sehr eindeutig: Wir könnten das militärische Blatt noch drehen, aber der Schlüssel liegt in den europäischen Hauptstädten und in den USA. Wenn sich da nichts bewegt, dann kann Selenskyj auch gegenüber seiner eigenen Bevölkerung argumentieren, dass ihn die fehlende Unterstützung dazu zwingt, andere Wege zu finden.
Scholz spricht nach wie vor davon, dass man der Ukraine beistehen würde, solange es nötig ist. Aber was ist eigentlich der Plan, den Scholz hat?
MASALA: Scholz hat keinen Plan für die Ukraine. Es gibt keinen Plan, das ist ja der Punkt. Es gibt keine Strategie für diesen Krieg.
Warum drückt sich der Kanzler so vage aus?
MASALA: Weil man sich dadurch alle Optionen offenhält. Wenn man sagt, die Ukraine muss siegen, dann muss man ja auch klar definieren, was siegen heißt. Nicht verlieren heißt: einfach überleben. Solange es noch irgendein Territorium gibt, das nicht von den Russen gehalten wird, hat die Ukraine irgendwie nicht verloren. Ich glaube, dass in Berlin zwei Befürchtungen vorherrschen. Das eine ist, dass man sich mit einem klareren Bekenntnis selbst in die Zwangslage versetzen würde, bestimmte Waffensysteme zu liefern, die dafür notwendig wären, dass die Ukraine gewinnt. Dann aber befürchtet man, dass Russland möglicherweise nuklear eskalieren könnte. Der zweite Punkt ist: Seit der Prigoschin-Meuterei vom Sommer 2023 ist es das Horrorszenario der Bundesregierung, dass Russland infolge einer Niederlage in der Ukraine Zerfallsprozesse aufweisen und bürgerkriegsähnliche Zustände in diesem Land herrschen könnten, in dem es dann noch immer 6000 nukleare Sprengköpfe gibt. Das ist das Horrorszenario, das in Berlin existiert.
Sprich, das Ziel ist eigentlich: Russland darf nicht verlieren.
MASALA: Das liegt ja nur bedingt in der Hand des Bundeskanzlers. Aber ja, in der Tat, Russland darf keine militärische Niederlage erleiden, dergestalt, dass dann interne Zerfallsprozesse einsetzen.
Was würde es denn umgekehrt für Deutschland bedeuten, wenn Russland gewinnen würde? Wie groß wären die Risiken dann?
MASALA: Die Sicherheitslage in Europa würde sich dramatisch verändern. Wir müssen damit rechnen, dass man nach einer gewissen Pause, in der Russland seine Landstreitkräfte regeneriert, erneut den Versuch unternehmen könnte, den Rest der Ukraine zu bekommen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass Russland irgendwann mal versucht, die Nato zu testen. Wir werden es mit einer neuen Welle von Flüchtlingen zu tun bekommen, Menschen, die dann in diesen von Russland okkupierten Gebieten leben, werden gehen. Das wird den Parteien nochmals Auftrieb geben, die immer argumentiert haben, diese Ukraine-Hilfe bringe ja nichts. Ich glaube, damit sind eine Menge Risiken verbunden für Deutschland.
In Anbetracht der Höhenflüge von BSW und AfD im Osten: Kann Scholz überhaupt noch anders, als im Vagen zu bleiben?
MASALA: Also, ich bin in einer Bundesrepublik aufgewachsen, in der es durchaus Situationen gab, in denen Politiker von einer Sache so überzeugt waren, dass sie dafür ihre politische Karriere aufs Spiel gesetzt haben. Sei es Helmut Schmidt mit der Nachrüstung, sei es Gerhard Schröder mit der Agenda 2010. Das sind so Momente, in denen politische Führung gefragt ist. Wenn man jedoch nur darauf aus ist, Wahlen zu gewinnen, dann muss man halt gewissen Stimmungen entgegenkommen und seine Politik danach ausrichten. Wenn man von Dingen überzeugt ist, muss man ins Risiko gehen. Dann kann es durchaus sein, dass man nicht mehr gewählt wird. Es scheint so, dass sich die SPD für Ersteres entschieden hat.
Zur Person
Carlo Masala, 56, ist Professor für internationale Politik an der Bundeswehr-Universität in München und Mitglied des wissenschaftlichen Beirats der Bundesakademie für Sicherheitspolitik sowie des Nato Defence College. Der ausgewiesene Militärexperte ist zu einer der wichtigsten öffentlichen Stimmen geworden, wenn es darum geht, die aktuelle geopolitische Lage einzuschätzen. Zuletzt ist sein Buch erschienen: „Warum die Welt keinen Frieden findet“ (Brandstätter-Verlag).
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