Herr Landsbergis, Cyberangriffe, Drohnen und Kampfflugzeuge über Polen, Rumänien, Estland oder Dänemark – Russland scheint die Nato testen zu wollen. Hat sie den Test bislang bestanden?
GABRIELIUS LANDSBERGIS: Ich habe aufgehört zu zählen, wie oft Vertreter von Ländern an der Ostflanke die Frage beantworten mussten, ob Putin uns testet. Der Test gegen Europa hat vor Jahren begonnen, in Form von beschädigten Unterwasserstromkabeln, Sabotageakten oder Brandstiftungen. Es ist schwer, das, was jetzt passiert, noch als Test zu bezeichnen.
Wie würden Sie es nennen?
LANDSBERGIS: Es ist eine spezielle militärische Operation gegen Europa.
Und wie sollte der Westen darauf reagieren?
LANDSBERGIS: Wir dürfen keine Schattenzone in unserem Luftraum entstehen lassen. Wenn Nato-Generalsekretär Mark Rutte sagt, man werde nichts unternehmen, solange die Jets keine Bedrohung darstellen, dann ist das so, als würde dein aggressiver Nachbar mit einem Messer durch dein Haus gehen und du sagst: Nun ja, vielleicht will er mich nicht umbringen. Ist schon okay, er darf hier herumspazieren. Ich finde, man muss sagen: Das ist mein Haus, mein privates Territorium. Du hast hier nichts zu suchen.
Sie plädieren also dafür, nicht nur Drohnen, sondern auch russische Jets abzuschießen?
LANDSBERGIS: Es ist für jedes einzelne Land sehr schwierig, diese Entscheidung zu treffen. Aber wenn wir von Verteidigung sprechen, muss man sich auch verteidigen. Dringt jemand in unseren Luftraum ein, sollten wir diese Operationen als Akte des Kriegs behandeln und den Flieger abschießen. Die Russen müssen wissen, dass es keine zweite Warnung geben wird. Zudem vertrete ich die Ansicht, dass wir der Ukraine helfen sollten, die Eskalation unter Kontrolle zu halten. Sie sind in der Lage, den Russen viel mehr Schaden zuzufügen, als sie es derzeit tun. Und sie sind willens, die Arbeit für uns zu erledigen. Ist dies also nicht der beste Moment, ihnen Taurus- oder Tomahawk-Marschflugkörper zu liefern?

Als kürzlich 19 Drohnen den polnischen Luftraum verletzten, konnte die Nato vier von ihnen abschießen. Waren Sie angesichts der Reaktion der Europäer erleichtert, dass es nur 19 und nicht 900 waren?
LANDSBERGIS: Wenn man die Nachrichten aus der Ukraine über die täglichen Angriffe auf Bürger und Infrastruktur liest, stellt man sich diese Zahlen unweigerlich auch für Europa vor. Nur werden dort anscheinend 90 Prozent der Drohnen abgeschossen. Zum einen kann einem also die aktuelle russische Eskalation Angst machen. Aber die andere, ebenso erschreckende Tatsache ist, wie unvorbereitet wir sind. Lange Zeit dachten wir, wir bringen den Ukrainern alles bei, was sie mit ihrer angeblich altmodischen Armee wissen müssen. Plötzlich wird uns klar, dass die Ukraine einen modernen Krieg führt und wir im Grunde keine Ahnung davon haben.
Es scheint, als habe ein Machtkampf zwischen der Nato und Russland begonnen. In der Vergangenheit haben sich Ihre Vorhersagen häufig bewahrheitet. Wollen Sie auch hier eine Prognose wagen, wer gewinnt?
LANDSBERGIS: Das Problem ist, dass das Szenario, das wir in den meisten Fällen im Kopf haben, einem großen Krieg zwischen zwei Seiten gleicht — Gut gegen Böse –, bei dem man die Qualität der Ausrüstung oder die Anzahl der Raketen kalkuliert. Die derzeitige Situation ist schwerer zu beschreiben. Jede russische Eskalation lässt uns zweifeln: Sollten wir darauf reagieren oder nicht? Und die Russen haben immer die Möglichkeit, alles abzustreiten. Stellen Sie sich vor: Ein russisches Flugzeug dringt in unseren Luftraum ein. Über einer Ölraffinerie hat es eine Fehlfunktion, stürzt in die Raffinerie und zerstört sie. Ist das kein Krieg? Unsere Position erlaubt es Russland, uns vor sich herzutreiben. Bis wir plötzlich erkennen: Wir werden angegriffen und haben immer noch nichts unternommen, weil wir an uns selbst zweifeln und daran, ob wir im Krieg sind. Die Grundhaltung muss sich ändern. Es wird ein Krieg gegen uns geführt, und wir werden uns verteidigen.
Die EU-Kommission will zum Schutz vor russischen Drohnen einen „Drohnenwall“ über dem gesamten Kontinent aufspannen. Was halten Sie von der Idee?
LANDSBERGIS: Es ist der einzige Weg, die Abwehr in einem größeren Maßstab anzugehen. Es bringt wenig, wenn wir jetzt versuchen, gegeneinander um Ausrüstung, Material und besseren Zugang zu konkurrieren. Wenn die EU-Kommission also die Finanzierung organisiert und einen Weg findet, wie man ukrainisches Know‑how und deren Fähigkeit zur Produktion von Ausrüstung mit unseren Bedürfnissen verknüpft, wäre das meiner Ansicht nach sehr gut.
Sie kritisieren seit Jahren, dass die Europäer zu wenig für ihre Verteidigung tun. Denken Sie, dass sich das nun grundlegend ändert, weil die Provokationen aus Russland zunehmen und die Amerikaner sich zurückziehen?
LANDSBERGIS: Ich empfinde die Debatten als frustrierend. Man fragt sich: Was braucht es denn noch? Es fehlen die großen Ankündigungen von der EU-Kommission. Ursula von der Leyen hält politikwissenschaftliche Reden, in der sie die Realität analysiert und als schlecht bewertet. Aber was tut sie als Chefin dagegen? Ihre Aufgabe wäre es, einen Fonds vorzuschlagen, um Europa sicherer zu machen, und zu sagen: ‚Das wird so und so viele Milliarden kosten und ist politisch riskant, aber ich übernehme das Risiko.‘ Ich erwarte von Europas Politikern, mit Aktionen voranzuschreiten und Verantwortung zu übernehmen, selbst wenn sie dadurch vielleicht nicht mehr nominiert werden oder Wahlen verlieren.
Sie haben Deutschland in der Vergangenheit oft kritisiert und gleichzeitig als größte Hoffnung bezeichnet.
LANDSBERGIS: Das Beispiel Deutschlands ist ermutigend. Es macht einen Extraschritt. Zwar geht alles langsam voran, aber es ändert sich etwas. Deutschland im Jahr 2025 ist nicht das Deutschland 2024. Heute klingen die Erklärungen zum Engagement für die Ukraine in vielen Fällen echt. Kanzler Friedrich Merz geht das Risiko ein.

Sie arbeiten gerade als Gastwissenschaftler an der Stanford University in Kalifornien. Wie nehmen Sie die Position der Amerikaner in Bezug auf Europa wahr?
LANDSBERGIS: Europa ist sehr weit entfernt, nicht nur geografisch, sondern auch politisch. Die Menschen verfolgen nicht, was in Europa passiert. Zumindest vorerst sind wir mehr oder weniger auf uns allein gestellt und müssen das Beste aus dem machen, was wir haben. Ich glaube, dass die Amerikaner aufmerksamer wären, vielleicht sogar eher bereit zu helfen, falls sich die Lage verschlechtert. Man würde vermutlich eine größere Beteiligung der USA an europäischen Angelegenheiten sehen. Aber worauf hoffen wir da? Wenn die Europäer erwarten, dass die Vereinigten Staaten sich stärker engagieren, dann erwarten sie gleichzeitig, dass die Situation schlimmer wird. Das ist keine gute Strategie.
Glauben Sie, dass die USA „jeden Zentimeter des Nato-Gebiets“ verteidigen würden, wie der US-Botschafter bei den Vereinten Nationen versicherte?
LANDSBERGIS: Wir wissen es einfach nicht – bis zu dem Moment, wenn die Russen angreifen. US-Verteidigungsminister Pete Hegseth sagte nach seinem Amtsantritt, dass sich Europa nicht länger auf die Vereinigten Staaten als Sicherheitsgarant verlassen könne. Ein wichtiger Satz, den wir entweder zu vergessen versuchen oder bei dem wir uns bewusst die Ohren zuhalten nach dem Motto: Vielleicht hat er sich ja versprochen. Aber selbst wenn es nicht stimmt, sollten wir unsere Strategie so ausrichten, als ob es wahr wäre. Das bedeutet, dass wir zu gegebener Zeit bereits herausgefunden haben sollten, wie wir den Kampf alleine führen. Und wenn die USA uns dann dabei unterstützen – umso besser. Mir macht aber angst, wenn ich – auch aus Deutschland – Zeitangaben höre, nach denen man zehn Jahre brauche, um sich vorzubereiten. Wir befinden uns in einem dynamischen geopolitischen Umfeld. Alles könnte sich durch einen Tweet von Donald Trump oder einen Angriff der Ukraine oder Russlands ändern.
Beim letzten Nato-Gipfel einigten sich die Mitglieder unter anderem auf eine massive Erhöhung ihrer Verteidigungsausgaben. Trotzdem geht es zum jetzigen Zeitpunkt beim Thema Sicherheit nicht ohne die Amerikaner, weshalb die EU etwa im Zollstreit auf eine Konfrontation mit Washington verzichtete.
LANDSBERGIS: Ich bin mir ziemlich sicher, dass der Hauptgedanke von jenen, die sich in Verteidigungsfragen verschließen, der ist: Ohne die USA sind wir zu nichts in der Lage, also lasst uns alles daran setzen, die Amerikaner bei der Stange zu halten. Aber das ist ein Fehlstart. Zu versuchen, die Amerikaner diplomatisch zu kontrollieren, ist so, als wollte man einen Tornado beherrschen.
Sehen Sie eine Verbindung zwischen Russlands jüngsten Provokationen und den Ereignissen im Sommer, als etwa US-Präsident Trump Wladimir Putin den roten Teppich ausrollte?
LANDSBERGIS: Ich denke, Putin glaubt inzwischen, dass er die Eskalation vollständig kontrolliert. Er kann auf die Ukrainer schießen oder Drohnen schicken und weiß, dass es keine Antwort vonseiten der Amerikaner oder Europäer geben wird. Wir zwingen ihn nicht, für seine Handlungen einen höheren Preis zu zahlen.
Was müsste Europa tun, um wirklich einen Unterschied zu machen?
LANDSBERGIS: Es ist ein strategisches Problem, wenn einer der reichsten Kontinente glaubt, nichts gegen Russland ausrichten zu können. Wir wären durchaus in der Lage, Russland in großem Ausmaß Schaden zuzufügen. Müssten sich dafür unsere Sozialsysteme verändern? Ja. Es ist unmöglich, unseren derzeitigen Lebensstil, unsere Wohlfahrtsstaaten aus Friedenszeiten, beizubehalten und gleichzeitig zu erwarten, einen Feind wie Russland besiegen zu können. Deshalb müssen wir uns an diese neue Realität anpassen.
Wie erklären Politiker den Bürgern solche tiefen Einschnitte?
LANDSBERGIS: Indem sie sehr ehrlich über die Bedrohung sprechen. Wahrscheinlich ist Deutschland das westlichste Land, das dazu als Ostseeanrainer in der Lage ist. Wenn es einen Angriff auf die baltischen Länder oder Polen gibt, wird Deutschland betroffen sein. Das den Menschen eindringlich zu erklären, ist möglich. Die Russen können unsere Lebensweise auf eine Art stören, wie es keine politische Entscheidung zur Verteidigung vermag. Wir könnten in Zukunft keine Nato mehr haben, keine Europäische Union – zumindest nicht in der Form, in der wir sie heute kennen. Denn wenn ein Nato-Land angegriffen und nicht richtig verteidigt wird, dann stellt sich ganz konkret die Frage: Was ist die Nato?
Halten Sie das für eine reale Gefahr?
LANDSBERGIS: Wenn ein Nato-Land angegriffen und nicht richtig verteidigt wird, dann stellt sich sehr konkret die Frage: Was ist die Nato?
Wenn Sie auf Ihre Zeit als Außenminister in diesen für Europa einschneidenden Jahren zurückblicken, welche Erkenntnis ziehen Sie?
LANDSBERGIS: Der Westen ist nicht so stark, wie wir ihn in Erinnerung haben. Als Litauen 2004 der EU und Nato beitrat, waren beide Organisationen auf dem Höhepunkt ihrer Macht. Jetzt befinden wir uns in einer Zeit, in der der westliche Einfluss abnimmt, und wir müssen neue Wege finden, damit umzugehen. Die Welt wird zunehmend gefährlicher, besonders für kleine Länder nahe der Grenze zu Russland. Trotzdem, wir können gewinnen. Nur wird uns der Sieg nicht geschenkt werden.
Zur Person
Gabrielius Landsbergis, 43, war von 2020 bis 2024 Außenminister Litauens, von 2014 bis 2016 saß der Konservative zudem als Abgeordneter im Europäischen Parlament. Sein Großvater Vytautas Landsbergis war das erste Staatsoberhaupt Litauens nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit 1990.
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