Der von der Koalition angekündigte «Herbst der Reformen» dürfte sich hinziehen – abgesagt ist er nicht. Ein erstes Gesetz sei quasi fertig, heißt es: Die darin geregelte neue Grundsicherung soll das Bürgergeld ersetzen.
Arbeitsministerin und SPD-Chefin Bärbel Bas stimmt die Bürgergeld-Reform derzeit mit CDU-Kanzler Friedrich Merz ab, weil sie «Chef- und Chefinnensache» sei, wie Bas im Bundestag sagte. «Ein Winter, ein Frühling, ein Sommer, ein nächster Herbst» würden auf den Reform-Herbst folgen, hatte Merz im Parlament angekündigt. «Wir müssen viel länger reformieren als nur einen Herbst lang», betonte auch Vizekanzler Lars Klingbeil (SPD) in einem Interview.
Zwei der Kommissionen für weitere «echte Reformen» (Merz) sind gestartet. «Eine strukturelle Reform des Sozialstaats könnte den Standort attraktiver machen, allein schon, weil die Unsicherheit über die künftigen Bedingungen wegfallen würde», sagt der Mannheimer Ökonom Nicolas Ziebarth. Wenn man den Status Quo bei Krankenversicherung, Rente und Bürgergeld nicht ändere, drohe ein immer stärkerer Sozialabgabenanstieg, warnen die Ökonomen.
Was sind die derzeit am stärksten im Fokus stehenden Probleme des Sozialstaats? Und was sind mögliche schwarz-rote Antworten? Fünf Punkte im Überblick:
Das Problem der (Un-)Gerechtigkeit
Ein Hauptziel der Bürgergeld-Reform soll mehr Gerechtigkeit sein – so unisono Merz, Bas und Söder. Streitereien über mögliche Einsparungen hätten Merz und Bas beigelegt, heißt es. «Das Bürgergeld ist ein gefühltes Gerechtigkeitsthema», erklärt der Ökonom Ziebarth. «Wer nicht mitmacht, soll demnach stärker sanktioniert werden.»
Bas will zum Beispiel «spürbare Konsequenzen» für jene, die Termine nicht wahrnehmen. Regional seien bis zur Hälfte der Termine beim Jobcenter betroffen. Heute können den Personen mit Bürgergeld Leistungen zu 10 bis maximal 30 Prozent gemindert werden.
Das Problem des Missbrauchs
Anstoß erweckt Missbrauch der Sozialsysteme in größerem Stil. So gab es bei der Bundesagentur für Arbeit (BA) bis August bereits mehr als 600 neue und erledigte Verdachtsfälle auf bandenmäßigen Betrug – Tendenz steigend, Dunkelziffer hoch. EU-Bürger, oft aus Osteuropa, werden laut Behörden von Banden angelockt, billig untergebracht und kommen mit geringer Beschäftigung sowie Sozialleistungsmissbrauch zum Einsatz. Auch zehntausende Fälle mutmaßlicher Schwarzarbeit plus Bürgergeld wurden zuletzt in einem Jahr gemeldet.
Bas will «ein hartes Vorgehen» und «mafiöse Strukturen» zerschlagen. Ein Mittel: besserer Datenaustausch zwischen Ausländerbehörden, Jobcentern und Zoll. Erst im September zielte eine Behördenaktion in acht Ruhrgebietsstädten auf kriminellen Geschäftsmodellen mit Schrottimmobilien und Sozialbetrug ab.
«Das kann man machen, löst aber nicht die strukturellen Probleme der Sozialversicherungssysteme», sagt Wissenschaftler Ziebarth. «Die Hoffnung scheint zu sein, mit durchgreifenden Reformen vor allem beim Bürgergeld den Aufschwung der AfD zu stoppen.»
Das Problem der sich nicht immer lohnenden Arbeit
Generell soll es sich stets lohnen, wenn man mehr arbeitet. Das ist nicht immer der Fall, wie erst wieder Wissenschaftler des Münchner Ifo-Instituts kritisierten. Bürgergeld, Kinderzuschlag und Wohngeld seien nicht ausreichend aufeinander abgestimmt. Arbeitsanreize fehlten. Das System sei intransparent. Die Forscher sagen: Die Hinzuverdienstregeln schüfen in manchen Fällen kaum Anreize. Netto fließe bei mehr Arbeit unter Umständen auch weniger aufs Konto.
Das Ifo fordert ein Transfersystem «aus einem Guss» und neue Regeln zum Hinzuverdienst – etwa 4,5 Milliarden Euro könnten gespart werden. Es ist bislang nur ein Expertenvorschlag. Doch in der im September gestarteten Sozialstaatskommission geht es hinter verschlossenen Türen auch darum: Wo können Arbeitsanreize verbessert, Sozialleistungen eventuell auch zusammengelegt werden? Vorschläge soll es noch dieses Jahr geben.
Das Problem steigender Gesundheitskosten
Unter akutem Zeitdruck steht die Regierung bei den Krankenkassenkosten. Die Zusatzbeiträge waren schon Anfang des Jahres im Schnitt auf 2,9 Prozent gestiegen. Doch bei den Kosten gibt es weiter nur die Tendenz nach oben: 54,5 Milliarden Euro für Klinikbehandlungen im 1. Halbjahr (plus 9,6 Prozent), 27 Milliarden Euro für ärztliche Behandlungen (plus 7,8 Prozent), 28,9 Milliarden Euro für Arzneimittel (plus 6 Prozent).
Bis Mitte Oktober will Gesundheitsministerin Nina Warken (CDU) Klarheit schaffen. Die Koalition will einen Anstieg der Krankenkassenbeiträge Anfang 2026 noch verhindern. Noch klafft trotz vorgesehener Finanzspritzen im Etat eine Lücke von vier Milliarden Euro. Im Gespräch ist auch eine gesetzliche Bremse, damit Ausgaben nicht stärker steigen als die Beitragseinnahmen.
Doch seien allgemeine Ausgabenmoratorien «ein ineffizientes Instrument, weil sie effektive und weniger effektive Behandlungen und Arztkontakte gleichermaßen betreffen», sagt Forscher Ziebarth. Eine Notfallmaßnahme eben. «Gute durchdachte Reformen sorgen gerade dafür, dass wir die weniger effektiven Behandlungen in den Blick nehmen und kosteneffektive Arztkontakte und Behandlungen anders bepreisen.» Auch grundlegende Reformen sind auf der Agenda: Dafür startete eine Expertenkommission. Vorschläge für eine große Reform der Krankenversicherung sind bis März angekündigt.
Das Problem der alternden Gesellschaft
Hinter den meisten Problemen steht vor allem die Alterung der Gesellschaft. Am deutlichsten wird dies bei der Rente. Der Übertritt der geburtenstarken Babyboomer-Jahrgänge in die Rente hat bereits begonnen. Das Absicherungsniveau soll nach den Plänen der Koalition und dem Gesetzentwurf von Bas aber bei 48 Prozent stabil gehalten werden. Also braucht die Rentenversicherung in den kommenden Jahren deutlich mehr Geld. So sollen die Kosten für die Stabilisierung des Rentenniveaus im Jahr 2031 auf mehr als 11 Milliarden Euro steigen. Hinzu kommt die milliardenschwere Mütterrente.
Eine Rentenkommission soll ab 2026 Reformpläne erarbeiten. Einigkeit ist bei dem Thema bisher kaum abzusehen. Ministerin Bas hatte Forderungen nach einem höheren Rentenalter bereits wiederholt zurückgewiesen. Sie sieht als Problem nicht zuletzt, «dass nicht alle in dieses System einzahlen», wie sie in einem Interview sagte. Im Blick dabei: Selbstständige und Beamte.




Um kommentieren zu können, müssen Sie angemeldet sein.
Registrieren sie sichSie haben ein Konto? Hier anmelden