
Schon beim ersten Kontakt am Telefon klang seine Stimme freundlich und überrascht. Wenige Tage später, als ich vor der Haustüre von Erich Grau in Ansbach stehe, ist sein Staunen noch größer. "Dass tatsächlich jemand aus dem schönen Allgäu mal hierherkommt, hätte ich ja nie gedacht", sagt er schmunzelnd und weist mir den Weg in die gute Stube. Was mir sofort auffällt, ist sein rollendes fränkisches "R", seine kräftige Figur und die einnehmenden blauen Augen. Weshalb ich das schreibe? Weil ich versuche, jenen Mythos zu ergründen, der sich rund um die Person Erich Grau rankt. Er gilt als Legende im deutschen Football.
- Er war der erste Quarterback einer deutschen Nationalmannschaft.
- Er stand mit den Ansbach Grizzlies von 1979 bis 1986 in jedem Finale um die deutsche Meisterschaft. Zuvor hatte er den Club mitbegründet.
- Er holte drei deutsche Titel mit den Grizzlies.
- Er war Sportdirektor des deutschen Footballverbandes.
- Er machte als Sportkommentator beim BR, DSF und VOX Football einer größeren Öffentlichkeit bekannt.
Ja, und so ganz nebenbei gründete er im Alter von gerade mal 27 Jahren die Allgäu Comets. Eine Tat, die fast in Vergessenheit geriet. Wenn man in der "Hall of Fame" des deutschen Football über Erich Grau liest, wird seine Zeit in Kempten nicht einmal erwähnt. Doch die Spieler der ersten Stunde erinnern sich noch genau an ihn. Sie beschreiben ihn als charismatischem Model-Athleten mit blonden Haaren, der obendrein hochgebildet war. Einer, der motivieren konnte und Leute mitriss. "Wenn der Erich statt Football Rugby gespielt hätte, dann wären wir alle Rugbyspieler geworden", bringt es Comets-Urgestein Franz Nieberle auf den Punkt.

Für den langjährigen Spieler und Jugendleiter aus Kempten ist die Vereinsgründung unvergesslich: Sie fand am 24. Mai 1982 exakt an seinem 24. Geburtstag statt! Und die Weichen dazu stellte Erich Grau. Der gebürtige Franke spielte schon damals erfolgreich bei den Ansbach Grizzlies. Das Team bestand aus Deutschen und Soldaten der US-Army, die im Fränkischen stationiert waren. Grau lernte also von guten Leuten aus dem Mutterland des Footballs. Im Zuge seines Referendariats verschlug es den angehenden Lehrer (Sport, Biologie, Chemie) ans Allgäu-Gymnasium nach Kempten. Dort, im tiefen Süden der Republik, zündete er den Funken der Begeisterung für die damals kaum bekannte US-Disziplin. Grau hängte in einigen Kneipen der Stadt Handzettel auf, mit denen er zum Probetraining lud. Der damalige Handballer Franz Nieberle gehörte zu den Neugierigen, die sich ein Papierstück samt Telefonnummer abrissen.

"Von Football hatte ich keine Ahnung", erzählt Nieberle. "Aber ich war einfach neugierig und hab zum ersten Training gleich etliche Kumpels mitgebracht." Die ersten Übungseinheiten machten den Novizen enorm Spaß. Begierig hingen sie ihrem Lehrmeister an den Lippen, lernten Grundzüge und Positionen des Spiels. Grau brachte ihnen sogar ein paar Ausrüstungen aus Ansbach mit.
Nach einigen Trainings-Wochen lud er schließlich zur Vereinsgründung. Ein Name war zu diesem Zeitpunkt schon gefunden. Grau und die Spieler hatten sich nach intensiven Gesprächen auf Comets geeinigt. Anders als viele Konkurrenten wollten sie sich auf keinen Fall nach einem Tier benennen und sie wollten einen Namen mit Anfangsbuchstaben "C" wie Cambodunum. Comets erschien wie geschaffen. Einem Feuerball gleich sollte sich die Mannschaft ins Football-Universum katapultieren.
Vorausschauend wie Erich Grau war, kümmerte sich der junge Stratege auch gleich um eine kurze Meldung in der Allgäuer Zeitung - und die erwies sich als Volltreffer. An jenem 24. Mai drängten sich eine kleine Armada von breitschultrigen jungen Männer in die TVK-Sportgaststätte. "Ich dachte zuerst, da hält ein Eishockey-Verein seine Jahresversammlung ab", erinnert sich Wegbereiter Erich Grau. "Doch dann sagte mir der Wirt, dass das alle angehenden Footballer seien, die einen Verein gründen wollen. So eine Resonanz hätte ich nie erwartet." Zum großen Erstaunen aller Beteiligten war auch gleich der erste Trainer mit von der Partie: der gebürtige US-Amerikaner Mike Romans war dem AZ-Aufruf gefolgt und bot sich an, das Team zu übernehmen. Der Zufall erwies sich somit endgültig als tüchtiger Medaillenschmied für die Comets!
Romans war und ist eine Koryphäe. Der Football-Experte war als Veterinär mit Spezialkenntnissen für Spürhunde zunächst für die US Army in Würzburg stationiert. Dort lernte er seine spätere Frau Jutta kennen. Das Paar zog nach Dietmannsried, wo Romans als Tierarzt arbeitete - und obendrein heiß darauf war, jungen Allgäuern das Football-Spiel näherzubringen. "Für alle Beteiligten war das ein Glücksfall", sagt Erich Grau.
"Mike Romans war ein Glücksfall für den Verein."Erich Grau über den ersten Comets-Trainer nach der Vereinsgründung
Denn er selbst sollte Kempten schon bald wieder verlassen. Nach einem Auslandsaufenthalt in Australien wurde er Lehrer in seinem Heimatort Ansbach. Sowohl als Spieler als auch als freiberuflicher TV-Kommentator für den bayerischen Rundfunk erlebte er viele Erfolge hautnah. "Eine wunderbare Zeit", erinnert er sich rückblickend. Doch das Schicksal riss ihn jäh aus der Glückseligkeit. Mit 45 litt er an chronischen Kopfschmerzen, später an Gleichgewichtsstörungen und Erinnerungslücken. Zehn Jahre später schließlich war er "völlig am Ende", wie er erzählt. Ausgerechnet Football, das schöne Spiel, für das er all die Jahre brannte, forderte seinen Tribut.
Grau könnte der erste bekannte Footballspieler aus Deutschland sein, der an der gefürchteten CTE erkrankt ist. Also an einer chronisch traumatischen Enzephalopathie, die in den USA bei vielen früheren Footballern oder auch Boxern festgestellt wurde. Die Gehirnerkrankung weist demenzhafte Symptome auf. Grund sind vermutlich wiederholte Kopfverletzungen, wie etwa leichte Gehirnerschütterungen. Und davon dürfte es in seiner Karriere etliche gegeben haben. Denn damals wurde bei den Tacklings der Kopf eingesetzt! Die Spieler krachten mit ihren Helmen mit voller Wucht gegeneinander. Ohne Rücksicht auf Verluste. Im Gegenteil: Die Head Hits galten vielen als Königsdisziplin. Die Spätfolgen ahnte damals keiner. Sie treten oftmals erst viele Jahre später auf.
Genau wie bei Erich Grau. Mit 45 Jahren häuften sich Kopfschmerzen, Vergesslichkeiten, Stimmungsschwankungen. Dem einstigen Power-Mann und Chef-Strategen entglitt die Kontrolle über den Alltag. Am Tiefpunkt angekommen, war er nicht einmal mehr in der Lage, beim Zahlen an der Einkaufskasse die nötige Summe aus dem Geldbeutel zusammenzuzählen. 2011 verabschiedete er sich schweren Herzenzs vorzeitig in Ruhestand. Er konnte die Klassenzimmer für seine Stunden selbst nicht mehr finden. Durch viel Willenskraft, die Unterstützung seiner Familie und verschiedene Therapien hat Erich Grau sein Leben inzwischen wieder besser im Griff. Er schützt sich vor Stress und Aufregung, versucht sich auf Wesentliches zu konzentrieren.
Auch der Sport hilft ihm dabei. Als Leichtathlet und Skibob-Fahrer ist er in seiner Altersklasse national und international erfolgreich. Doch er braucht viele Ruhephasen, hat immer wieder Erinnerungslücken und bedauert diesen Zustand. Mehrmals entschuldigt er sich in unserem Interview dafür. Trotz dieses Haderns fallen ihm immer wieder blitzgescheite Sätze ein. Als ich ihn frage, ob er – aus der heutigen Perspektive – Dinge anders gemacht hätte, antwortet er: "Ich habe keinen Einfluss darauf, was in einem Paralleluniversum passieren könnte. Deshalb beschäftige ich mich nicht damit. Ich konzentriere mich ausschließlich auf das Hier und Jetzt." Und er will andere vor einem ähnlichen Schicksal wie dem seinen bewahren. "Gerade junge Football-Spieler sollten sich der Gefahren immer bewusst sein, stets einen Helm tragen, und nicht mit dem Kopf tackeln."
Am Ende unseres Interviews will ich von Erich Grau wissen, wie er - als einer der erfolgreichsten deutschen Footballer aller Zeiten - heute auf die Zeit bei den Comets blickt. Der Leitwolf schweigt lange. Er starrt ins Leere. Als ob vor seinem inneren Auge ein Film abläuft. Der Film von den kleinen Außenseitern aus dem tiefen Süden der Republik. Die unter seiner Regie bei null anfingen - und heute tausende von Zuschauern der German Football League begeistert. Als ich Erich Grau genauer mustere, merke, dass ihm Tränen über die Wangen laufen. Er wischt sie nicht ab. Er ringt nach Worten. Dann sagt er: "Es ist etwas Wunderbares im Leben, wenn man etwas Größeres schafft als man selber war. Ich konnte Leute auf den Weg schicken, die ihn großartig ausbauten."
Spätestens in diesem Moment begreife ich, weshalb dieser Mann nicht nur bei den Comets als Held gilt.