Der Zweite Weltkrieg hat nahezu in jeder deutschen Stadt Spuren hinterlassen. Doch während andernorts die Nachkriegszeit von der Beseitigung der Verwüstungen geprägt war, gewann das nahezu unversehrte Kaufbeuren ab 1946 innerhalb weniger Jahre einen komplett neuen Stadtteil hinzu. Vor 75 Jahren kamen konzentriert Vertriebene aus dem nordböhmischen Isergebirge in die Wertachstadt, siedelten sich auf dem Gelände einer gesprengten Munitionsfabrik an und bauten im Allgäu die traditionsreiche Gablonzer Schmuckwaren- und Glasindustrie erfolgreich wieder auf. Seit 1952 heißt die Siedlung offiziell Kaufbeuren-Neugablonz. Aktuell leben dort gut 14 000 der insgesamt knapp 45 000 Einwohner Kaufbeurens.
Vertriebene Unternehmer wollten sich zusammen ansiedeln
Der Flüchtlingsstrom aus den ehemals deutsch geprägten Gebieten in Osteuropa floss bei Kriegsende zwar allerorten in den Westen. Doch die Besatzungsmächte und auch die Landesregierungen waren darauf bedacht, die Neuankömmlinge möglichst dezentral zu verteilen. Dagegen strebten die vertriebenen Unternehmer der Gablonzer Industrie an, sich möglichst geballt in der neuen Heimat anzusiedeln. Denn nur so konnte die stark arbeitsteilige Kooperation zwischen den Betrieben auch am neuen Wirkungsort aufrecht erhalten werden.
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Auf der Suche nach geeigneten Standorten stießen sie auf das ehemalige Werkgelände der „Dynamit-Actien-Gesellschaft“ (DAG) nordöstlich von Kaufbeuren. Die Rathausspitze war angetan von der Aussicht auf einen wirtschaftlichen Schub für die Wertachstadt und unterstützte die Anwerbung von Gablonzer Experten – auch wenn es angesichts des massiven Zuzugs von Vertriebenen starke Vorbehalte gab. Auch die amerikanische Militärregierung und das bayerischen Wirtschaftsministeriums waren gegen ein neues Gablonz an der Wertach. Schließlich gelang es aber, einen Pachtvertrag mit den Amerikanern über das DAG-Gelände auszuhandeln, der am 26. Juni 1946 unterzeichnet wurde. Dieses Dokument gilt heute als „Gründungsurkunde“ von Neugablonz.
Für 18000 Menschen musste schnell Infrastruktur geschaffen werden
Immer mehr Flüchtlinge siedelten sich – anfangs in Baracken und in den Ruinen der gesprengten Munitionsfabrik – an. In den Folgejahren sahen sich 18 000 der etwa 100 000 deutschsprachigen Bewohner des Kreises Gablonz an der Neiße im östlichen Allgäu wieder. Für diese vielen Menschen musste schnell eine Infrastruktur geschaffen werden. So ist der Stadtteil heute noch geprägt von großen Wohnblocks und zweckmäßigen Produktions- und Funktionsgebäuden. Doch mit den Jahren erhielt Neugablonz auch prägende Bauten wie die Herz-Jesu-Kirche oder das Kulturzentrum Gablonzer Haus mit dem erst 2020 komplett fertiggestellten Isergebirgs-Museum. In den vergangenen Jahren wurde zudem verstärkt Nachkriegs-Wohnbauten durch zeitgemäße Gebäude ersetzt – etwa im für seine Architektur preisgekrönten Iser-Quartier.
Spannungen entschärft
Auf die erste große Integrationsleistung nach dem Zweiten Weltkrieg folgte nach dem Fall des Eisernen Vorhangs die zweite: In den 1990er-Jahren zogen viele Spätaussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion nach Neugablonz. Dies führte wiederum zu sozialen Spannungen, die sich aber nicht zuletzt durch viele Projekte und Initiativen inzwischen weitgehend entschärft haben.
Entspannt hat sich auch das historisch belastete Verhältnis zwischen Neugablonz und Gablonz an der Neiße (Jablonec nad Nisou) in Tschechien. Nach ersten Initiativen von Vereinen und Privatpersonen wurde 2009 eine offizielle Städtepartnerschaft zwischen Kaufbeuren und Jablonec besiegelt.
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