Wüste Szenen ereigneten sich, als Heere der Römer im Jahr 15 vor Christus in Füssen und Bregenz auftauchten. Brutal gingen sie gegen die zwischen Bodensee und Lech lebenden Menschen vor. Und die wehrten sich ebenso brutal gegen die übermächtige römische Militärmaschine: Sie töteten ihre Kinder und warfen die Leichen den Angreifern entgegen. So grausig schilderte der Allgäu-Forscher Alfred Weitnauer einst die Eroberung des heutigen Allgäus durch die Römer. Seinen Leser freilich verriet er nicht, woher er wusste, wie horrorfilmreich sich die verzweifelten Kelten und Räter verteidigten, die hier lebten.

Wie auch immer: Im Jahr 15 vor Christus wagten die Römer den Sprung über die Alpen und verleibten sich das Land zwischen den Alpen und der Donau ein. Dass sich der Brocken, den sie Rätien nannten, am Ende als schwer verdaulich erwies, wussten sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht.
Mit dem Auftreten der Römer gelange der Allgäuer Landschaftsraum ins Licht der Geschichte, schreiben die Historiker gerne. Aber ist es wirklich so? Ein paar Lichtstrahlen mehr gibt es sicherlich. Die Geschichtsforscher wissen von Siedlungen und Römerstraßen, von Schlachten und Kämpfen (erst mit Kelten/Rätern, später mit Germanenstämmen). Aber was genau im Land vor den Alpen in der Römerzeit passierte, liegt zum Großteil noch immer im Dunkeln. Das liegt in erster Linie an den fast vollkommen fehlenden schriftlichen Zeugnissen aus dieser Zeit. Auch die Archäologen konnten bisher wenig zur Aufhellung beitragen. „Die althistorischen Quellen zur Geschichte der römischen Provinz Rätien sind relativ bescheiden“, erklärt Gerhard Weber, einst Chef-Archäologe in Kempten und jetzt im Ruhestand. Einzige Ausnahme: Über Cambodunum, der Vorläuferstadt von Kempten, wissen die Archäologen dank erfolgreicher Grabungen wenigsten etwas mehr als nichts.

Während der Römerzeit im heutigen Allgäu, also ab 15 vor Christus bis etwa 450 nach Christus, entstanden zivile Siedlungen und Militärstützpunkte in unserer Region. Die beiden bekanntesten Städte waren Cambodunum (Kempten) und Brigantium (Bregenz), die beide wohl aus früheren keltischen Siedlungen hervorgingen. Auf dem Auerberg im heutigen Ostallgäu gab es über 30 Jahre lang eine Siedlung mit ziviler und militärischer Bedeutung, nämlich von 13/14 bis 45 nach Christus. Der Name: Damasia. Dort existierte möglicherweise ein älterer Kultplatz des Keltenstammes der Vindeliker. In der Folgezeit entstanden Militärstützpunkte bei Isny (Vemania, etwa zwischen 276 und 280) und Füssen (Foetes; vermutlich ab dem 3. Jahrhundert).
Obwohl die römischen Feldherren Drusus und Tiberius das heutige Allgäu im Jahr 15 vor Christus von Füssen (Drusus) und Bregenz (Tiberius) aus erobert hatten, dauerte es eine Weile, bis romanisches Leben zu blühen begann. Erst 30 Jahre später gibt es erste Siedlungsspuren einer neuen Stadt mit dem keltischen Namen Cambodunum. „Spätestens in den frühen 20er Jahren stehen die ersten Holzhäuser“, sagt Archäologe Weber. Erste große, aufwändig ausgestattete öffentliche Bauten errichteten die Eroberer aus dem Süden noch vor der Mitte des 1. Jahrhunderts. Nach Bränden um das Jahr 70 herum erbauten die Römer die Stadt nach mediterranem Vorbild neu - weitgehend aus Steinhäusern. Cambodunum an der Hauptstraße von Bregenz Richtung Norden und Osten avancierte zum politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Zentrum des Alpenvorlands – und zur wohl ersten Hauptstadt der neuen Römer-Provinz Rätien, wie Weber vermutet.
Was passierte mit den bisherigen Einwohnern? Die Römer vereinnahmten sie kurzerhand. Viele Männer wurden für entfernt stationierte Legionen angeworben – oder zwangsrekrutiert. Historiker sprechen davon, dass Frauen und Kinder teilweise auf Sklavenmärkten verkauft wurden. Wer in der Region bleiben konnte, musste den neuen Herren als Sklaven dienen und das Land bebauen. Von den Kelten und Rätern überdauerte fast nichts - außer die Namen von Siedlungen und Flüssen.

Ausgrabungen und Funde belegen, dass außerhalb von Befestigungen im Laufe der Zeit weitere kleine Siedlungen und Gutshöfe (villa rustica) entstanden – meist entlang der Römerstraßen, die das heutige Allgäu durchzogen. Eine Hauptachse lief von Bregenz über die Region Isny nach Kempten (über Meckatz, Heimenkirch, Grünenbach, Buchenberg). In Cambodunum-Kempten gab es mehrere Abzweigungen, so dass dieser Ort zu einem wichtigen Kreuzungspunkt wurde: Eine Straße führte nach Augsburg, davon abzweigend illerabwärts eine Verbindung zur Donau; ein weiterer Hauptstrang lief über den Raum Marktoberdorf nach Epfach am Lech, eine dritte Verkehrsader führte über Durach südostwärts und mündete bei Füssen (Foetes) in die Via Claudia Augusta. Vermutlich gab es auch eine Straße von Kempten in Richtung Süden das Illertal hinauf nach Sonthofen und Oberstdorf. Die Via Claudia Augusta verband Norditalien mit Augusta Vindelicum (Augsburg). Sie folgte von Füssen aus dem Lech flussabwärts Richtung Epfach und Augsburg. Kaiser Claudius ließ die Straße auf einer zum Teil schon älteren Trasse etwa 50 nach Christus ausbauen.
Laut dem Kemptener Archäologen Dr. Gerhard Weber lassen sich auf dem Gebiet des heutigen Allgäus etwa 30 Kleinsiedlungen und Gutshöfe nachweisen. Sie bestanden vor allem im 2. und frühen 3. Jahrhundert. Die größte bisher bekannte römische Villa-Rustica-Anlage im ganzen Allgäu wurde im Jahr 2001 im Zuge von Bauarbeiten in Kohlhunden bei Marktoberdorf entdeckt. Der Gutshof, der vermutlich den Namen Cenobio trug, wurde nach Ansicht von Archäologen in der Mitte des zweiten Jahrhunderts erbaut und bereits nach drei oder vier Generationen Mitte des 3. Jahrhunderts wieder aufgegeben. Spuren einer Zerstörung wurden nicht gefunden. Die Anlage ist siedlungsgeschichtlich wie auch wegen des Funds von Kultgefäßen mit Inschriften bedeutsam. Knochenfunde von Pferden, Rindern, Schafen, Ziegen, Schweinen und Hühnern spiegeln nicht nur den Lebensstandard gut situierter Leute wider, sondern zeigen auch, was auf den Tellern und in den Bechern landete: Fleisch und Milch. Die etwa zehn Gebäude wurden zum Gutteil aus Tuffstein errichtet. Weitere Funde von römischen Besiedlungen gibt es beispielsweise in Thalhofen (bei Marktoberdorf) und bei Schwangau am Fuß des Tegelbergs.
Vielleicht haben die Römer im oberen Illertal auch eine Frühform der Alpwirtschaft betrieben und ihr Vieh im Sommer auf die baumfreien Wiesen der Berge getrieben. Archäologisch kann diese Theorie zwar nicht belegt werden. Gern wird aber der Fund einer bronzenen römischen Viehglocke auf einer Alpe am Nebelhorn bei Oberstdorf ins historische Argumentationsfeld geführt. Auch wird vermutet, dass die Menschen am Alpenrand käsen konnten. Im römischen Cambodunum belegen dies spezielle Keramikschüsseln für die Käseherstellung.
Im 2. und 3. Jahrhundert war es vermutlich recht ruhig in dem Landstrich vor den Alpen. Die Römer, die romanisierten Kelten und Räter sowie zugezogene Siedler bauten Getreide, Obst und Gemüse an, tauschten Harz, Holz oder Käse. Außerdem betrieben sie Viehzucht – nicht zuletzt um die Truppen zu versorgen. Mit den Einfällen der germanischen Alamannen und Juthungen ab dem 3. Jahrhundert von Norden und Westen her war die ruhige Zeit freilich vorbei. Immer öfter mussten sich die Römer gegen die Eindringlinge wehren.
Deren Plünderungen machten besonders den Menschen in den dörflichen Siedlungen und auf den Gutshöfen schwer zu schaffen. Bei den Überfällen verloren viele Menschen ihre Leben. Oder es wurde zumindest ihre materielle Existenz vernichtet. Offenbar eroberten und plünderten die Germanenstämme wiederholt auch Cambodunum.
Mitte des 3. Jahrhunderts verloren die Römer das nordwestlich von Kempten gelegene Gebiet an die Alamannen. Cambodunum wurde damit zur Grenzstadt des römischen Imperiums. Deshalb gaben die Römer das auf dem östlichen Illerhochufer gelegene, schwer zu verteidigende Cambodunum um 280/300 herum weitgehend auf und bauten eine neue Stadt am gegenüber gelegenen Westufer der Iller, am Fuß der heutigen Burghalde. Sie erhielt den Namen Cambidanum.
Römisches Militär, eine Abteilung der „dritten italischen Legion“, wurde dorthin verlegt. Zu verteidigen war sie erheblich leichter, weil die Burghalde wie eine Insel 25 Meter hoch über die Iller emporragte und wohl nur von einer Seite zugänglich war. Gesichert war sie mit einer Wehrmauer samt vorspringenden Türmen. Brandspuren zeugen von manch unruhigen Zeiten, Katastrophen und Kämpfen.
Weil sich das römische Reich im Laufe der 4. Jahrhunderts dem Christentum öffnete, kann es gut sein, dass auch in Cambidanum und anderen römischen Siedlungen im Alpenvorland erste christliche Gemeinden entstanden. Das allerdings ist Spekulation, denn gesicherte Beweise für diese Annahme gibt es nicht.
Wohl um 450 herum bricht die römische Herrschaft endgültig zusammen. Die Besatzer, die 15 vor Christus – wie brutal auch immer – ins das heutige Allgäu eingedrungen waren, ziehen ab, zermürbt und entnervt von den dauernden Kämpfen mit den Germanenstämmen. Die Alamannen, die ab dieser Zeit auch Schwaben genannt werden, besiedeln nun das Alpenvorland endgültig, in das sie vorher immer wieder eingefallen waren. Damit geht ein tiefgreifender Wandel im sozialen Gefüge einher. Es ändern sich aber auch die Siedlungs-, Wirtschafts- und Bevölkerungsstrukturen.
Epochal gesehen endet mit dem Ende des weströmischen Reiches 476 und dem Vordringen der Germanen/Alamannen die Antike. Das Mittelalter beginnt.