"Das Ding ist uns entglitten", sagte Kanzlerin Angela Merkel (CDU) in einem ehrlichen Moment während der zweiten Corona-Welle im Winter. Jetzt, vor der möglichen vierten Welle, findet sie sich in einem Deja-Vu wieder. Das Ding scheint ihr erneut zu entgleiten. Das Virus hat zwar wegen der Impfung von über der Hälfte der Menschen in Deutschland an Schrecken verloren, aber nun machen ihr die Ministerpräsidenten das Leben schwer. Baden-Württembergs Grüner Landesvater Winfried Kretschmann und sein SPD-Amtskollege Stephan Weil aus Niedersachen gehen ihre eigenen Wege in der Seuchenpolitik. Es sind nicht die kleinen Schlenker, die die meisten Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten in den vergangenen anderthalb Jahren eingeschlagen haben, sondern eine bewusste Abkehr vom Kurs.
In Niedersachen und Baden-Württemberg kommt es nicht mehr auf die Inzidenz an
Baden-Württemberg und Niedersachen haben sich von der Inzidenz als Steuerungsgröße verabschiedet und sie öffnen. Das alles, nachdem sie am Dienstag noch mit Merkel und den anderen Länderchefs Corona-Regeln für ganz Deutschtand abgesprochen haben. In den letzten Wochen ihrer Amtszeit schafft es Merkel nicht mehr, den Kampf gegen die Seuche zentral zu koordinieren und für im Grundsatz gleiche Regeln zu sorgen. Dabei war, als die Kanzlerin die Ergebnisse der Ministerpräsidentenkonferenz verkündete, deutlich zu spüren, dass sie fest mit der vierten Welle rechnet. Merkel will unbedingt vermeiden, im Herbst dem Virus wieder hinterherzuregieren, während sich nach der Wahl gerade eine neue Regierung findet.
Kneipen und Gaststätten in Baden-Württemberg dürfen ohne Beschränkungen öffnen
Doch dann kam Kretschmann und machte ihr einen Strich durch die Rechnung: Er lobte noch die Beschlüsse der Ministerpräsidentenkonferenz, um tags darauf die gesamte Republik zu überraschen. Der Südwesten macht auf. Wer doppelt geimpft ist, bekommt ab Montag alle Freiheiten wieder. Gleiches gilt für Genesene und Getestete. Kneipen und Gaststätten dürfen ohne Beschränkungen öffnen. Die Inzidenz wird als Maßstab abgeschafft. Kretschmann lässt es laufen.

Der Regierungschef schickte seinen Sozialminister und Parteifreund vor, um die Volte zu erklären. "Wir wollen und wir werden den Menschen ihre Freiheitsrechte zurückgeben", sagte Manfred Lucha. Das Land will ein neues Prognosemodell für den weiteren Verlauf der Pandemie entwickeln, das unter anderem die Belegung der Intensivstationen mit Corona-Patienten berücksichtigen soll.

Niedersachsen tut es Baden-Württemberg gleich. Ministerpräsident Weil verzichtete anders als Kretschmann sogar auf das Lob der gemeinsamen Beschlüsse und hielt mit Kritik nicht zurück. Ihn ärgert, dass es Bund und Ländern nicht gelungen ist, ein neues Corona-Warnsystem auf den Weg zu bringen. Er forderte eine Diskussion darüber, "was ist eigentlich unter neuen Bedingungen der richtige Bewertungsmaßstab"? Doch statt auf die Ergebnisse derselben zu warten, machte sich Weil ans Handeln.
Der bisherige Stufenplan wird gestrichen, ab dem 25. August sollen neue Corona-Regeln vorliegen. Auch Weilüberließ es einem anderen, den Systemwechsel vorzustellen. "Wir haben mittlerweile mehr als die Hälfte der Bevölkerung vollständig geimpft, das werden täglich mehr. Für die kann man eigentlich weitgehende Einschränkungen des Lebens infektionsrechtlich und verfassungsrechtlich nicht mehr rechtfertigen", erläuterte Staatskanzlei-Chef Jörg Mielke. Auch Getestete und Genesene werden wohl bald kaum noch Einschränkungen durch die Pandemie spüren müssen.
Während andere öffnen, ist Söder Kapitän von Team Vorsicht
Für Bayerns Ministerpräsidenten Markus Söder ist die Situation misslich. Der CSU-Chef gibt gerne den Kapitän des "Teams Vorsicht" und hat bereits deutlich gemacht, dass er Ungeimpfte im Herbst aus Wirtshäusern, Kneipen, Fitnessstudios und Theatern auszusperren gedenkt. "2G wird so oder so ab einem bestimmen Zeitpunkt kommen", sagte ein unzufriedener Söder und meinte damit, dass nur Geimpfte und Genesene am sozialen Leben teilhaben werden können. Dass sich nun ausgerechnet im Nachbarland sein alter Freund Kretschmann aus dem Team Vorsicht verabschiedet, ist bitter für Söder und bringt ihn in Bayern zumindest für den Spätsommer in Erklärungsnot.
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