Frau Merkel, was macht man nach so dichten Jahren als Bundeskanzlerin am ersten Tag im Ruhestand?
ANGELA MERKEL: Als Bundeskanzlerin a.D. habe ich in Berlin ein Büro. Das habe ich erst mal bezogen. Und dann habe ich mich da hingesetzt und gefreut, dass es keinen vollen Terminkalender gibt. Ich hatte mir vorgenommen, erst mal vier bis fünf Wochen an die Ostsee zu verschwinden. Ganz allein. Ohne Mann, ohne irgendjemand anders. Einfach mal zu gucken, wonach mir ist, worauf ich Lust habe. Am Meer spazieren gehen. Ich hatte mir bis Mai eigentlich nichts vorgenommen. Dann kam der Überfall auf die Ukraine, das hat mich doch empfindlich gestört, das war ein einschneidendes Ereignis.
Als wir 2018 mit Ihnen sprachen, sagten Sie, Sie würden sich freuen, sich im Ruhestand mehr um Ihren Garten zu kümmern und Reisen in andere Zeitzonen zu unternehmen. Wie sieht der Garten inzwischen aus? Und wo waren sie überall?
MERKEL: Also, der Garten bekommt schon mehr Pflege, aber perfekt sieht er immer noch nicht aus. Und durch die Zeitzonen zu reisen, das hat noch ein bisschen auf sich warten lassen. Ich habe ziemlich schnell angefangen, meine Erinnerungen zu schreiben. Und das war mächtig Arbeit. Das hat Freude gemacht, war aber auch herausfordernd. Seither bin ich viel unterwegs. Aber viel weiter als eine Stunde Zeitunterschied habe ich es bisher nicht geschafft. Also: Spanien, Portugal oder Griechenland.

Es ist zehn Jahre her, dass Sie Ihren berühmten Satz „Wir schaffen das!“ gesagt haben: Haben wir es geschafft?
MERKEL: Ich habe im Laufe meiner Kanzlerschaft sehr, sehr oft „Wir schaffen das!“ gesagt. Das hat nur nie so große Aufmerksamkeit bekommen. In dieser Situation war der Satz natürlich sehr markant und hat auch polarisiert. Das muss man sagen. Wir hatten im Frühjahr 2015 eine Prognose, dass 400.000 Flüchtlinge kommen werden – im August eine von 800.000. Das war ein Prozess und deshalb hatten wir schon mit den Bürgermeistern gesprochen, mit den Ministerpräsidenten Konferenzen gehabt, wir wussten, das wird eine riesige Anstrengung. Und deshalb habe ich gesagt, wir schaffen das. Natürlich ist der Prozess nicht abgeschlossen. Wir haben vieles geschafft, aber wir haben noch viel zu tun. Und wir haben auch Enttäuschungen erlebt, das ist ganz klar. Und was sich als besonders schwierig herausgestellt hat und was ich vielleicht in dieser Schwierigkeit nicht gesehen habe, ist, wie schwer es ist, Menschen wieder außer Landes zu bringen, die ausreisepflichtig und die zum Teil bei uns kriminell geworden sind, die terroristische Anschläge verübt haben. Da ist in meiner Zeit schon sehr viel versucht worden und es wird weiter vieles versucht. Aber ich finde, wir sollten auch einen Blick dafür behalten, wie viele auch derer, die zu uns gekommen sind, was geschafft haben. Das ist schon eine riesige Leistung, die dort vollbracht wurde, sowohl von dem aufnehmenden Land, den vielen Menschen, die sich persönlich gekümmert haben, aber auch von denen, die zu uns gekommen sind. Wir haben in Deutschland einen gewaltigen Beitrag geleistet. Ich sehe nicht kritisch, dass wir die Menschen zu uns gelassen haben. In der Politik muss man sich immer fragen, was die Alternative ist? Was hätten wir denn gemacht? Hätten wir uns mit Wasserwerfern an die Grenze gestellt? Und was wäre mit unseren Werten gewesen?
An dem Tag, an dem Viktor Orbán die Menschen auf die Autobahn schickte und sie ganz schnell entscheiden mussten, ob sie diese in Deutschland einreisen lassen – was ging da in Ihnen vor? Lässt man da Emotionen an sich ran oder entscheidet man nach bestem Wissen und Gewissen – neutral und kalkuliert?
MERKEL: Ich darf als Bundeskanzlerin nicht Entscheidungen treffen, die rechtswidrig sind. Ich habe dann den damaligen Außenminister Frank-Walter Steinmeier angerufen und gefragt, wie die Rechtsabteilung des Auswärtigen Amtes die Lage beurteilt. Ich habe das natürlich mit den Koalitionspartnern besprochen, wollte auch Horst Seehofer anrufen. Das hat nicht geklappt. Ich war sicher, dass das europäische Asylrecht die Möglichkeit eröffnet, in einer Ausnahmesituation eine solche Entscheidung zu treffen. Das heißt, ich habe nichts getan, was nicht nach Recht und Gesetz war. Aber emotional? Das kann ich jetzt nicht sagen.
Sie haben Horst Seehofer an dem Abend nicht erreicht. Sie haben sich monatelang über die Flüchtlingspolitik gestritten. Wir haben ihn getroffen und gefragt, was er wiederum Sie fragen würde. Er sagte, er frage sich schon, warum Sie, Frau Merkel, nicht auch zu den Opfern ihrer Migrationswende gehen. Die Menschen, die wegen gescheiterter Integration leiden, an dysfunktionalen Schulen, wegen gestiegener Kriminalität. Seehofer endete mit dem Satz: Es gibt auch die Kehrseite: Mannheim, Solingen, Aschaffenburg. Was antworten Sie?
MERKEL: In meinen Erinnerungen ist ein ganzes Kapitel dem islamistischen Terrorismus gewidmet, den es schon vor den ankommenden Flüchtlingen in Deutschland gab, der aber in anderer und jetzt vielleicht auch häufigerer Form aufgetreten ist. Ich verstehe total, dass die Menschen wirklich sauer sind. Zumal, wenn es um die Leute geht, die das Land hätten verlassen müssen. Das muss verändert werden, das ist vollkommen klar. Es ist nicht richtig zu sagen, ich würde mich wegducken und diese Fragen nicht sehen. Dennoch komme ich zu dem Ergebnis, dass – so wie die Lage 2015 war – ich mir nicht vorstellen möchte, dass ich stattdessen Wasserwerfer eingesetzt hätte. Ich wollte etwas tun, das mit unseren Werten vereinbar ist. Dass uns da eine große Aufgabe erfasst hat, ist vollkommen richtig. Wenn wir wieder in eine solche Situation wie 2015 kämen, müssten wir uns hinterher fragen lassen: Waren alle unsere Reden über Werte und Menschenwürde schöne Sonntagsreden oder haben wir versucht, auch ein bisschen danach zu handeln?
CDU und CSU rühmen sich heute dafür, dass sie Ihre damalige Flüchtlingspolitik fundamental verändert haben. Ihr Nachfolger spricht von der „Migrationswende“. Halten Sie diese heute für richtig?
MERKEL: 2016, 2017 und 2018 hatten wir deutlich weniger ankommende Flüchtlinge. Dann gab es den Peak nach Beginn des Ukraine-Krieges. Und dann ist auch die illegale Migration wieder angestiegen. Olaf Scholz und – jetzt verstärkt – die neue Bundesregierung haben vieles in Gang gesetzt. Sowohl die Verhandlungen mit den Herkunftsländern als auch konsequente Grenzkontrollen. Das ist jetzt notwendig gewesen, als man gesehen hat, dass die Zahlen wieder ansteigen. Es gibt den einen Dissens, über den haben wir schon hundertmal gesprochen. Wenn jemand „Asyl“ sagt, glaube ich, sollte man ihn nicht zurückweisen. Aber: Im Grundsatz gibt es ein ganzes Bündel von Maßnahmen, illegale Migration zu bekämpfen. Und das finde ich richtig.
Aber es bleibt ein Dissens?
MERKEL: Damit wir zum 150. Mal die gleiche Meldung haben, können wir festhalten: Den Dissens gab es 2018 und den gibt es 2025. Das ist eine Frage, wie Europa das geregelt hat. Aber Einigkeit besteht doch darüber, dass wir Außengrenzen besser schützen müssen, dass wir Frontex haben, dass wir bessere Datenregister haben müssen, dass wir wissen, wer einreist und wer schon in einem anderen europäischen Land war. Das sind alles Dinge, die besser wurden. Aber sie sind noch nicht so gut, dass man nichts mehr machen müsste.
Wir sind, wenn man das einer geborenen Hamburgerin im feinsten Söder-Sprech so sagen darf, in „Premiumdeutschland“. Kommen Sie gerne nach Bayern?
MERKEL: Immer wieder. Ich komme gern nach Franken, wo die Bayreuther Festspiele sind. Ich bin heute sehr gerne in Schwaben. Augsburg spielt ja auch historisch eine wirklich wichtige Rolle. Oberbayern ist natürlich immer schön anzuschauen. München ist ein echtes Kraftzentrum Deutschlands. In Niederbayern kenne ich mich nicht ganz so gut aus. Bayern ist ein tolles Stück Deutschlands. Aber ich kenne auch andere tolle Stücke Deutschlands.

Sie haben es erwähnt, die Wagner Festspiele stehen bei Ihnen fest im Kalender. Welche Wagner-Oper würden Sie selbst inszenieren und welche Sängerinnen würden Sie auf die Bühne bringen?
MERKEL: Jeder hat ja seine Stärken und Schwächen. Ich bin sicher keine Opern-Regisseurin. Ich bin immer sehr gerne nach Bayreuth gefahren, weil es einfach Festspiele sind und man sich – wenn man Urlaub hat – den ganzen Tag auf die Oper freut. Sonst, wenn man so mitten im Geschäft ist, geht man irgendwann mal in die Oper, dann ist man so müde, kommt zum ersten Akt gar nicht, schläft den zweiten Akt und ist beim dritten endlich wach. Das ist nicht so gut. Für mich ist vollkommen ausgeschlossen, dass ich Regie führen könnte. Die ist viel zu komplex für mich. Der „Ring“ ist für mich das interessanteste Werk. Der zeigt: Wenn am Anfang einer menschlichen Entscheidung eine illegale Tat steht – das Gold wird aus dem Rhein geraubt –, dann kann es nie wieder glücklich werden. Es gibt kurze Zeiten, wenn Siegmund und Sieglinde sich verlieben. Aber immer wieder kommt durch, dass am Anfang schon der Pferdefuß liegt. Zum Schluss muss das Gold wieder zurück in den Rhein und die Sache geht von Neuem los. Das ist für mich eine unglaubliche Aufforderung, nie um eines Zieles willen, schnell mal irgendwas Falsches zu tun. Das wird man so schnell nicht mehr los.
Was war eigentlich unangenehmer? Edmund Stoiber die Kanzlerschaft anzutragen oder sich 2015 von Horst Seehofer auf dem Parteitag zehn Minuten eine Standpauke anzuhören?
MERKEL: Das kann man nicht vergleichen. Auf dem Parteitag damals habe ich einfach gedacht, dass solche Bilder nicht nur in Deutschland gezeigt werden, sondern auch außerhalb. Das hat mich traurig gestimmt. Aber das Frühstück in Wolfratshausen ist, wenn ich das jetzt etwas arrogant sagen darf, eigentlich ein Beispiel für politische Kunst. Es gab diese unauflösbare Situation damals: Ich hatte mir vorher überlegt, dass ich es mir auch zutraue, Bundeskanzlerin zu werden. Edmund Stoiber wollte sich aber auch nicht direkt in den Clinch begeben. Ich musste den günstigen Moment herausfinden und die Gelegenheit beim Schopfe packen. Nicht zu früh, nicht zu spät. Und das war eben dieser Tag des Frühstücks. Ich habe dann angerufen und gesagt, ich komme. Dann habe ich gesagt: Ich glaube, wir wollen es beide. Wir müssen jetzt überlegen, was für die Union das Bessere ist, wer CDU und CSU gemeinsam, geeinter in diese Wahl führen kann. Und weil viele in der CDU der Meinung waren, Edmund Stoiber kann es besser, war er es. Dann habe ich ihn aus vollem Herzen und mit ganzer Kraft unterstützt. Es haben 6000 Stimmen gefehlt, sonst wäre die Geschichte vielleicht anders abgelaufen. Du musst – und das ist auch das Tolle an Politik und warum ich immer gerne Politikerin war – aus scheinbar unvereinbaren Situationen zum Schluss etwas machen, was für die ganze Truppe gelingt. Nach allem, was ich höre, war der Wahlkampf besser als der von Franz-Josef Strauß – und hat dann auch die Möglichkeit ergeben, dass die CSU mich später unterstützt hat, weil man gewusst hat, ich habe vorher auch etwas zur Einigkeit der Union beigetragen.
Sie haben in Ihrer Karriere nicht nur Edmund Stoiber oder Friedrich Merz, sondern einen Mann nach dem anderen hinter sich gelassen, wenn man das so flapsig sagen darf. Was haben die alle falsch gemacht?
MERKEL: Das Neue bestand nur darin, dass ich eine Frau bin. Männer lassen permanent Männer hinter sich. Es war einfach eine neue Konstellation. Aber dass diese Frau nun eine männermordende Größe ist, ist ein vollkommen unvollständiges Bild. Politik besteht aus Wettbewerb. Man kämpft. Wir alle, die wir Politiker sind, wollen etwas erreichen, wollen sich einsetzen, sind im Wettbewerb. Das ist richtig so, weil sich die Besten durchsetzen müssen Das sind Prozesse, in denen Parteien ihre Kraft und Lebensfähigkeit behalten. Ich habe vielleicht öfter gewonnen, als andere erwartet hatten, das kann schon vorkommen. Aber das ist der ganz normale Prozess.

Steht man als Frau stärker unter Beobachtung? Hat man es als Frau schwerer in der Politik als als Mann?
MERKEL: Ja, weil es wenig Rollenmodelle gab und ich die erste Bundeskanzlerin war, stand ich unter anderer Beobachtung. Frauen kleiden sich bunter. Ich war ja noch sehr zurückhaltend. Ich habe mir oft Gedanken gemacht, ob die Menschen noch zuhören, wenn ich spreche. Wenn sie sich als erstes wieder mit deiner Kleidung auseinandersetzen müssen. Das muss man bei Männern nicht, die haben dunklen Anzug und Krawatte, oder nicht, aber dann ist auch eigentlich Schluss mit der Betrachtung. Ich denke, dass ich durch die 16 Jahre als Bundeskanzlerin dazu beigetragen habe, solche Rollenbilder aufzuweichen.
Wäre es an der Zeit für eine Bundespräsidentin. Ilse Aigner? Ursula von der Leyen? Vielleicht steigen Sie noch mal ein?
MERKEL: Also, das Letzte brauchen wir nicht zu betrachten. Aber dass mal eine Frau Bundespräsidentin sein könnte, das finde ich richtig. Dass man überhaupt drüber sprechen muss, ist schon wieder komisch.
Bereuen Sie es eigentlich heute , zum Zeitpunkt des Mauerfalls in der Sauna gesessen zu haben?
MERKEL: Nein, ich bin ja an dem Abend noch rüber nach Westberlin. Ich habe ja nicht bis 0.00 Uhr in der Sauna gesessen.
Als Sie aus dem Amt ausschieden, wurden Sie in den höchsten Tönen gelobt. Sie wurden als „Heldin der freien Welt“ gefeiert und nach dem Überfall Putins auf die Ukraine wurden Sie heftigst kritisiert. Hat Sie das getroffen?
MERKEL: Wenn man in der Öffentlichkeit gelobt wird, darf man sich nichts darauf einbilden. Mich hat das nicht getroffen, sondern das hat natürlich dazu geführt, nochmals intensiv zu reflektieren: Was haben wir gemacht, was ist geschehen? Aber: Was ich mit dem Wissen von heute früher entschieden hätte, ist für mich – ehrlich gesagt – irrelevant. Ich konnte nicht wissen, dass es eine Corona-Pandemie gibt. Ich konnte nicht wissen, dass man zwei oder drei Jahre mit Putin nicht sprechen kann. Ich komme zu dem Ergebnis, dass es – mit dem Wissen von damals – auf jeden Fall wert war, zu versuchen, die Unabhängigkeit der Ukraine ohne einen solchen Krieg zu sichern. Das hat nicht geklappt. Ich glaube, Corona hat dabei eine große Rolle gespielt, weil wir uns persönlich nicht mehr sehen konnten. Insbesondere Präsident Putin aber auch Präsident Xi waren bei politischen Treffen noch zurückhaltender. Was ich damals getan habe, ist für mich alles soweit nachvollziehbar. Aber dass es Enttäuschungen gibt, dass es nicht gelungen ist, einen solchen Krieg zu verhindern, kann man nicht als positive Entwicklung betrachten.
Glauben Sie, wenn Sie noch als Kanzlerin in diesen schicksalhaften Tagen im Amt gewesen wären, Sie hätten ihm klar machen können, welche Folgen sein Angriff hatte, dass der Westen ernst meinte mit der Unterstützung der Ukraine?
MERKEL: Das ist eine hochspekulative Frage. Das kann ich nicht beantworten. Es ist gekommen, wie es kam. Der Kontakt zu Putin ist nicht abgerissen. Wir haben aber meistens nur telefoniert und oder Videokonferenz gemacht. Das ist nicht das Gleiche, als wenn man sich richtig gegenübersitzt und richtig streitet. Er hat eine furchtbare Fehleinschätzung vorgenommen, zu glauben, er könne in der Ukraine einfach im Handstreich das politische System ändern. Präsident Wolodymyr Selenskyj hat einen unglaublichen Mut bewiesen. Wir erinnern uns, Präsident Joe Biden hatte ihm Hilfe angeboten zu fliehen. Und Selenskyj antwortete: Ich brauche hier keine Fluchthelfer, ich brauche Waffen. Und deshalb ist es richtig, dass wir heute die Ukraine unterstützen.
Sie sagten nach Ende ihrer Kanzlerschaft, Putin versteht nur eine Sprache, nämlich die der Härte. Das hätten sie bereits im Jahr 2007 erkannt. Warum haben Sie es dennoch zugelassen, dass Deutschland sich in diese Gas-Abhängigkeit von Russland begeben hat?
MERKEL: Er versteht nur die Sprache der Härte. Trotzdem musste man mit ihm auskommen. Und wir hatten auch Interessen. Und ein großes Interesse waren billige Energiepreise. Wir hatten auch im Kalten Krieg mit Russland Gashandel betrieben, wo sich die russische Seite trotz riesiger Differenzen verlässlich verhalten hat. Die Amerikaner waren übrigens schon damals im Kalten Krieg dagegen. Wir hatten damals als Alternative arabische Staaten, gegen die es ebenfalls Vorbehalte gab. Erst 2017 hat die USA ihr Gas-Exportverbot aufgehoben. Also gab es Opportunitätsgesichtspunkte. Aber wir haben nach der russischen Annexion der Krim Sanktionen gegen Russland verhängt, aber wollten auch immer einen Gesprächskanal. Wir haben im Februar 2015 das Minsker Abkommen verhandelt. Damals war die Ukraine in einem Zustand, dass Putin sie hätte überrennen können. Das konnte er 2022 nicht mehr, denn man hat der Ukraine mit diesem Abkommen zumindest die Zeit gegeben, aufzurüsten. Aber ich hatte nie die Illusion, dass Putin, seine Absicht aufgegeben hat, die Ukraine unter seine Einfluss-Zone zu bekommen.
Wenn Putin so gefährlich ist, warum wurde in Ihrer Amtszeit das Zwei-Prozent-Ziel der Nato nie erfüllt?
MERKEL: Ja, das war schlecht. Weil die Dringlichkeit nicht so groß war. CDU und CSU waren nicht die Hauptbremser. Wir haben viele Diskussionen geführt, unseren Koalitionspartner SPD davon zu überzeugen, dass wir bewaffnete Drohnen brauchen. Schon damals führten Armenien und Aserbaidschan Kriege nur mit bewaffneten Drohnen. Das war die Auseinandersetzung der Zukunft. Mit dem Angriff 2022 auf die Ukraine hat sich auch die Sichtweise der Sozialdemokratie verändert. Wir wussten, dass wir neue Flugzeuge brauchten, alles bekannt, hundertfach besprochen. Nun kann man fragen: Habe ich mich leidenschaftlich genug dafür eingesetzt? Hätte ich das zum Hauptthema machen müssen? Auch da, muss man im Rückblick sagen, hätten wir vielleicht etwas schneller voran gehen müssen.
Sie galten in Ihrer Amtszeit als eine Art Gegenspielerin von US-Präsident Donald Trump. Können Sie nachvollziehen, dass Ihr Nachfolger Friedrich Merz einen anderen Weg wählt und einen sehr freundlichen Kurs fährt?
MERKEL: Auch ich habe nie geglaubt, dass man besonders weit kommt, wenn man einen maximalen Konflikt fährt. Ein amerikanischer Präsident ist ein amerikanischer Präsident. Alle vertreten sehr hart ihre Interessen. Über die Handelspolitik konnte man sich mit Donald Trump immer unglaublich gut streiten. Aber ich habe auch durchaus diplomatische Erfolge erzielt, indem man freundlich miteinander gesprochen hat. Wichtig ist, dass man seine eigenen Interessen nicht aus dem Auge verliert. Jeder vertritt da sein Land und seine Wählerschaft. Es ist gut, wenn man auch persönlich einen Draht hat, aber es wird manchmal auch überschätzt, was für Möglichkeiten man hat.

Sie haben 2008 in der Knesset, dem israelischen Parlament, erklärt: Die Sicherheit Israels ist deutsche Staatsräson. Was bedeutet das heute, angesichts des grauenhaften Überfalls der Hamas auf Israel, aber auch des brutalen Vorgehens der Israelis im Gazastreifen?
MERKEL: Das bedeutet, dass wir uns immer für die Existenz des Staates Israel einsetzen, ohne dass wir jetzt die Politik der aktuellen Regierung richtig finden müssen. Ich habe mich schon als Bundeskanzlerin sehr viel mit Benjamin Netanjahu gestritten und ich würde das heute auch wieder tun. Da gibt es große Unterschiede. Aber wir sehen gleichzeitig, dass auch die halbe israelische Bevölkerung auf die Straße geht und nicht einverstanden ist mit dieser Politik. Aber die Hamas stellt sich gegen das Existenzrecht Israels. Das Elend der palästinensischen Bevölkerung im Gazastreifen hat sehr viel mit der Hamas zu tun. Hier wird manchmal Ursache und Wirkung verwechselt. Die Hamas nimmt palästinensische Zivilisten als menschliche Schutzschilde, um Israel zu schaden. Was macht man, wenn unter jeder Schule ein Hamas-Gefechtsstand ist? Das ist eine schwierige Aufgabe, vor die ich in meiner Zeit nicht gestellt wurde.
Wie bewahrt man sich die Menschlichkeit im Politikbetrieb auch über 16 Jahre?
MERKEL: Ich habe mich immer gefragt: Wirst du zynisch oder kannst du noch neugierig auf Menschen sein? Dann muss man aufhören. Gott sei Dank hat der Herrgott, würde ich mal jetzt als Christin sagen, uns so geschaffen, dass wir unterschiedlich sind. Und diesen Unterschied habe ich immer versucht, als Bereicherung zu empfinden und nicht als eine Belastung. Dass nicht alle nach einer Pfeife tanzen, macht uns stark. Und wenn man sich über diese Unterschiedlichkeit nicht mehr freuen kann, dann wird man zynisch. Und ich hoffe, dass ich das nicht geworden bin. Ich habe mich immer über die Möglichkeiten gefreut, dass ich viele tolle Menschen kennenlernen konnte.
Würden Sie jungen Leuten oder jungen Menschen angesichts der harten Auseinandersetzungen heute noch raten, in die Politik zu gehen?
MERKEL: Ja, natürlich. Selbst wenn mit harten Bandagen gekämpft wird, habe ich viel Fairness auch in der Politik erlebt. Wir haben unterschiedliche Überzeugungen und wollen davon etwas durchsetzen. Sicherlich ist nicht alles mal so, dass man es toll findet. Aber an den Geschicken eines Landes mitzuarbeiten, ob als Oberbürgermeister, als Landrätin oder im Stadtrat oder im Bundestag, das macht doch einfach Freude. Es ist natürlich aber dabei auch desillusionierend, dass man für alles eine Mehrheit braucht. Von meiner eigenen Überzeugung bleiben nie 100 Prozent übrig, weil man immer von Leuten umgeben ist, die eine Sache zumindest ein bisschen anders sehen. Da muss man sich dran gewöhnen. Aber das ist in Familien auch nicht viel anders. Es ist eigentlich schön, wenn man darum kämpft, gute Argumente für die eigene Sache zu finden. Aber man darf nicht vergnatzt sein. wenn man sich nicht zu 100 Prozent durchsetzt. Leute, die das wollen, müssen woanders hingehen.


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