Der Kampf um die Mitte ist eröffnet – und er wird in Neon-Orange geführt. Als Friedrich Merz am Montag zum Parteitag der CDU im Berliner Messezentrum eintrifft, begrüßt ihn die SPD dort mit zwei großen, grellen Spruchbändern auf der gegenüberliegenden Straßenseite. „Die Mitte sind wir“, steht da. Und: „Mitte-statt-Merz.de.“ Wo genau diese Mitte beginnt, wo sie endet und woran man sie eigentlich erkennt, ist zwar eine eher akademische Frage, wenn nicht gar eine philosophische. In diesem Wahlkampf allerdings, der in knapp drei Wochen mit der vorgezogenen Neuwahl des Bundestages endet, ist die Mitte längst zu einem Synonym für fast alles geworden, was diesseits der AfD steht.
Den Vorwurf, er selbst nehme es mit der Abgrenzung zu den Rechtspopulisten nicht genau genug, hat Merz in den vergangenen Tagen immer wieder zu entkräften versucht, mal ein wenig ironisch, mal betont sachlich, mal auch etwas energischer im Ton – auf den Parteitag aber wirft das Thema der vergangenen Woche gleichwohl noch einen Schatten. Umso deutlicher wird der Kandidat deshalb unter dem Jubel der Delegierten. „Diese Partei steht gegen alles“, sagt Merz über die AfD. „Gegen die Westbindung. Gegen den Euro. Gegen die Nato.“ Und wenn irgendjemand noch zweifle: Mit der AfD werde es keine Zusammenarbeit geben, verspricht er, keine Duldung und auch keine von ihr tolerierte Minderheitsregierung. Punkt.
CDU-Parteitag mit Friedrich Merz: Entscheidungen im Wahlkampf zur Bundestagswahl 2025 erstreiten
Es dauert ein paar Minuten, bis der Kandidat überhaupt auf das Thema zu sprechen kommt. Konrad Adenauer und die Westbindung mit dem Aufbau der Bundeswehr, Ludwig Erhard und die soziale Marktwirtschaft, Helmut Kohl und die deutsche Einheit: Alle großen Richtungsentscheidungen seit Kriegsende seien unter Regierungen getroffen worden, die von Kanzlern der CDU geführt wurden, rechnet Merz vor. „Geschichte passiert nicht einfach“, sagt er. „Geschichte wird politisch entschieden.“ Entscheidungen, wie sie auch jetzt wieder nötig seien, müssten aber auch erstritten werden, möglicherweise sogar erkämpft. „Deshalb heißt es ja Wahlkampf.“
Nach der Aufregung über die beiden Abstimmungen in der vergangenen Woche hat Merz nicht in den Rechtfertigungsmodus geschaltet, sondern in den Angriffsmodus. Die Wirtschaftspolitik der Ampel? „Gekennzeichnet von einer ungezügelten Staatsgläubigkeit.“ Die Arbeitslosigkeit? „Auf dem höchsten Stand seit mehr als zehn Jahren.“ Höhere Steuern für die so genannten Reichen? Nicht mit ihm. „Das ist der klassische Mittelstand, der auf den Gewinn Einkommenssteuer zahlt.“ Und, schließlich, der Kampf gegen den zunehmenden Islamismus und Antisemitismus? Viel zu zögerlich werde der bisher geführt, findet Merz. Deshalb habe die Politik in den vergangenen Jahren viel Vertrauen an die Populisten von links und rechts verloren.

Markus Söder spricht vor Friedrich Merz auf dem Parteitag der CDU
„Die Migration ist uns über den Kopf gewachsen“, warnt auch CSU-Chef Markus Söder, der kurz vor dem CDU-Chef spricht und ihm mit einer langen, ausschweifenden Rede fast ein wenig die Schau stiehlt. Merz habe deswegen eine Leitentscheidung getroffen, als er seine Anträge zur Begrenzung der Zuwanderung in den Bundestag einbrachte: „Unser Ziel ist es, Opfer zu verhindern und Täter gar nicht erst ins Land zu lassen.“ Und anders als auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise, als Angela Merkel noch Kanzlerin war, sei die Union in der M-Frage jetzt auch nicht mehr gespalten.

Dazu aber mit der AfD zusammenarbeiten oder gar mit ihr koalieren? „Niemals,“ beteuert Merz am Abend vor dem Parteitag im Konrad-Adenauer-Haus noch einmal. Ein paar Meter von ihm entfernt steht Hendrik Wüst, der Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen und neben Söder der zweite Reservekanzler der Union. Er erinnert sich noch gut an den verkorksten Wahlkampf von Armin Laschet vor drei Jahren und auch noch an den von Edmund Stoiber, der 2002 Gerhard Schröder knapp unterlag.
Die CDU unter Friedrich Merz hat mit der CDU von Angela Merkel nicht mehr viel gemein
Was die Kampagne des Kandidaten Merz von den beiden erfolglosen Versuchen vor und nach Angela Merkel unterscheide? „Diesmal mobilisieren auch wir“, sagt Wüst. Mag die Kritik an der fehlenden Distanz zur AfD noch so heftig sein, soll das heißen, und der Andrang bei den Demonstrationen draußen im Land noch so groß: Die Union steht deutlich geschlossener hinter Merz als sie einst hinter Merkels Flüchtlingspolitik stand – und vermutlich ist es auch kein Zufall, dass mit dem früheren Parteivize Roland Koch einer der schärfsten innerparteilichen Kritiker von Angela Merkel neben dem Kanzlerkandidaten in der ersten Reihe sitzt.
Die Merz-CDU verbindet nicht mehr viel mit der Merkel-CDU. Schon als der Parteichef zum Auftakt des Treffens einer kurzen Begrüßung ansetzt, feiert der Saal ihn mit stehenden Ovationen. Eine Delegierte reckt ein Transparent in die Höhe, auf dem orthographisch grenzwertig, aber für alle verständlich nur ein Wort steht: „KANNzler“
Parteitag kurz vor der Bundestagswahl: Die Aussicht aufs Kanzleramt schweißt die CDU zusammen
Und die zwölf Abgeordneten der CDU, die am Freitag nicht mit abgestimmt haben, angeführt von Monika Grütters, der früheren Kulturstaatsministerin, der langjährigen Merkel-Vertrauten Annette Widmann-Mauz und dem ehemaligen Kanzleramtschef Helge Braun? Stehen sie für eine schweigende Minderheit in der Partei? Ticken sie wie Angela Merkel, die Merz öffentlich in die Parade gefahren ist? „Die werden ihre Gründe gehabt haben“, sagt eine Frau mit Einfluss im Adenauer-Haus lapidar. „Aber ins Gewicht fällt das nicht.“
Der minutenlange Beifall, den der Parteichef am späten Nachmittag für seine Rede erhält, scheint das zu bestätigen. „Was für ein Siegeswille“, staunt der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer. Anders als bei der SPD, zu deren Parteitagen der Streit gehört wie das Salz in die Suppe, neigt die CDU nicht zur öffentlichen Nabelschau. Zu Helmut Kohls Zeiten hat man sie dafür gerne als Kanzlerwahlverein verspottet. Angela Merkel hat sie respektiert, aber nie wirklich geliebt. Unter Merz schweißt sie nun vor allem die Aussicht zusammen, bald wieder den Kanzler stellen zu können.
Friedrich Merz will Kanzler werden und geht dabei aufs Ganze
In der Debatte jedenfalls meldet sich kein Kritiker des Merz-Kurses zu Wort, sofern überhaupt einer im Plenum sitzt. Keiner formuliert auch nur irgendein Unbehagen mit der Strategie des Kandidaten, der „all in“ gegangen ist, wie es beim Poker heißt, also alles riskiert hat, um seine Zeitenwende in der Migrationspolitik noch vor der Wahl in ein Gesetz zu gießen und der die Zustimmung der AfD dabei billigend in Kauf genommen hat.
Ob der Union das unterm Strich nutzt oder schadet? Unklar. Noch sind die Ereignisse der vergangenen Woche in den Umfragen nicht eingepreist. Boris Rhein allerdings ist sich sicher: Das Scheitern ihres Gesetzentwurfes am Freitag sei keine Abstimmungsniederlage für Merz und die Union gewesen, sagt der hessische Ministerpräsident. „Das war ein Offenbarungseid von Rot-Grün.“

Um auch nur einen Hauch des Zweifels zu finden, müssen die 1001 Delegierten schon genau hinhören. Etwa wenn Hendrik Wüst sagt, nur ein weltoffenes Deutschland bleibe auch wirtschaftlich stark. Das kann man als weiteren Angriff auf die AfD verstehen, aber auch als subtile Warnung an den Kollegen Merz, es mit dem Abschotten Deutschlands als Kanzler nicht zu übertreiben. Selbst Karin Prien, die umtriebige Bildungsministerin aus Schleswig-Holstein und als Frontfrau des eher progressiven Parteiflügels keine flammende Merz-Verehrerin, sagt an die Adresse der SPD, der Grünen und aller, die in diesen Tagen mit ihnen demonstrieren: „Wir brauchen keinen antifaschistische Nachhilfeunterreicht.“ Auch die DNA der CDU sei antifaschistisch und antitotalitär. Sie jedenfalls, fügt die 59-jährige dann noch hinzu, stehe jetzt fest der Seite von Merz.
Der hat bereits vor dem Parteitag in einem Interview in der Bild-Zeitung versprochen: „Ich gebe den Wählerinnen und Wählern in Deutschland die Garantie, dass es in der Wirtschaftspolitik und in der Asylpolitik eine wirkliche Wende gibt.“ Nicht nur in der vergangenen Woche, sekundiert Thorsten Frei, der Geschäftsführer der Bundestagsfraktion und möglicherweise der nächste Kanzleramtschef, sei in Deutschland zu viel über die AfD und zu wenig über die Probleme des Landes geredet worden. Das Sofortprogramm für den Tag nach der Wahl, zu dem unter anderem ein Stopp der illegalen Migration, eine Reduzierung der Stromsteuer und die Rücknahme des umstrittenen Heizungsgesetzes von Robert Habeck gehören, passiert den Parteitag deshalb einstimmig. Auch hier: Keine Spur von Kritik. „Wir wollen gute Rahmenbedingungen für alle und nicht hohe Subventionen für einige wenige“, sagt Merz später. Das Ziel der Union sei es, diesen Staat wieder in Ordnung zu bringen. Vulgo: Politikwechsel.
Als die Delegierten das Berliner Messegelände am späten Nachmittag wieder verlassen, leuchtet gegenüber von ihnen noch immer das Mitte-Motiv der SPD. Die zehn Demonstranten allerdings, die darunter mit großen Buchstaben vor ihren Körpern mahnend das Wort „Brandmauer“ zusammengesetzt haben, haben ihre Plakate schon wieder eingepackt.
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