Cem Özdemir hat es eigentlich nicht eilig an diesem Nachmittag im September, aber er geht hurtig voran. Selbst die Mitglieder des schwäbischen Alpenvereins haben auf der Wanderung zwischen Lauterach und dem Kloster Untermarchtal ein wenig Mühe, mit ihm Schritt zu halten. Der 59-Jährige, der zum Wandern, hier im Alb-Donau-Kreis, ein sandfarbenes Bundeswehr-T-Shirt trägt, scheint in guter Kondition zu sein. Die braucht er auch, wenn er den Rückstand der Grünen bis zur Landtagswahl im März aufholen will. Seine Partei liegt in den Umfragen deutlich hinter der CDU zurück. So mancher Beobachter hält deshalb die Wahl schon für entschieden. Özdemir freilich nicht: Auch bei den vergangenen Wahlen hätten es die Grünen „am Ende“ gedreht. Was sollte er aber auch anderes sagen als Spitzenkandidat der Grünen?
Es steht viel auf dem Spiel für die Grünen in Baden-Württemberg. Seit 2011 sonnen sie sich in dem Glanze, bundesweit den ersten und einzigen Ministerpräsidenten zu stellen, der inzwischen der Länderchef mit der längsten Amtszeit ist. Anders als von Kritikern vorhergesagt, hat Winfried Kretschmann das Land nicht mit ideologischen Ideen in den wirtschaftlichen Ruin getrieben, sondern mit verschiedenen Koalitionspartnern weitgehend pragmatisch und geräuschlos Politik gemacht.
Wenn Kretschmann kritisiert, dann vor allem in Berlin
Er hat auch bewiesen, dass ein Regierungsbündnis von Grünen und CDU in einem ländlich geprägten Flächenland funktionieren kann. Als vor der vergangenen Bundestagswahl prominente Unionsvertreter, allen voran der bayerische Ministerpräsident Markus Söder, kein gutes Haar an den Grünen ließen und eine Koalition ausschlossen, waren CDU-Politiker im Südwesten weiterhin loyal zu Kretschmann. Wenn der 77-Jährige kritisiert wird, dann vor allem in Berlin, weil er seinen Parteifreunden zu wenig grün ist. Doch Berlin ist bekanntlich weit weg.
In diesem Sinne erweist sich Özdemir schon jetzt als würdiger Nachfolger. Zu Ampel-Zeiten hat er sich immer wieder so positioniert, dass aus der Parteizentrale und Bundestagsfraktion Klagelaute zu hören waren. Seit dieses Regierungsbündnis Geschichte ist und er seine Ministerämter verloren hat, scheint es den 59-Jährigen noch weniger zu interessieren, wo die grüne Linie verläuft – beispielsweise in der Migrationspolitik und beim Verbrenner-Aus. Da sei ein Jahr früher oder später für ihn nicht entscheidend, sagte er zuletzt. Aber das ist natürlich auch Teil seiner Strategie. Je weniger Grün er wahrgenommen wird, desto bessere Wahlchancen kann er sich ausrechnen.
Die Situation ist ja in der Tat etwas paradox: Obwohl derzeit sehr viel mehr Wählerinnen und Wähler zu einem Kreuzchen bei der CDU tendieren, läge bei einer Direktwahl der Kandidaten Özdemir vor dem 37-jährigen CDU-Konkurrenten Manuel Hagel, wie verschiedene Umfragen ergaben. Das mag damit zu tun haben, dass der Name Özdemir vielen ein Begriff ist, während bei Hagels Bekanntheitswerten noch Luft nach oben ist. Doch in wichtigen Politikerfeldern wie Sicherheit, Digitalisierung, Migrationspolitik, Wirtschaft und Bildung hat die CDU mit Abstand die Nase vorn.
Özdemir muss klarmachen, dass er nicht in den Heizungskeller hineinregieren will
Der Auftrag, der sich daraus für Özdemir ergibt, ist klar: Überzeugungsarbeit leisten. Den Menschen klarmachen, dass er nicht zu jenen gehört, die in den Kühlschrank und in den Heizungskeller hineinregieren willen. Dass grüne Politik für ihn nicht bedeutet, der Wirtschaft im Detail vorzuschreiben, was sie im Sinne des Klimaschutzes zu tun hat, sondern dass Politik nur den Rahmen setzt, um Energieeffizienz und Klimaneutralität zu erreichen. Dass er nahbar sein will, für Firmen und Handwerkerbetriebe genauso wie für die normalen Bürger. Dass es ihn wirklich interessiert, wo die Leute im Ländle der Schuh drückt – und er nicht so abgehoben ist, wie manche ihm unterstellen.
Auch deshalb die mehrtägige Reise im September durch Baden-Württemberg, wo er nicht nur Wanderfreunde, sondern auch Firmenchefs und Unternehmensgründer trifft. „Minischter“ und „Minischterpräsident“ sagt Özdemir dann, als wollte er die Menschen vergessen lassen, dass er sich in vergangenen Jahren auf einer größeren und internationaleren Bühne bewegt hat.
Egal, wie die Wahl am 8. März 2026 ausgehen wird: Hinter Cem Özdemir werden große Sprünge liegen. Zuletzt derjenige von Berlin zurück in die baden-württembergische Heimat. In Dörfer und Kleinstädte, wo zwar noch „Kaufladen“ auf Hausfassaden im Ortskern zu lesen ist, aber der nächste Supermarkt eine gute Wegstrecke entfernt ist. Wo es an einer Linde am Ortsausgang noch Sitzbänke gibt. Wo die Straßen an einem Donnerstagvormittag gähnend leer sind.
Dass er als Nachfolger von Winfried Kretschmann antreten wird, war dem 59-Jährigen ebenso wenig in die Wiege gelegt wie seine Karriere als Bundespolitiker. Es ist noch nicht so lange her, da hielten selbst liberale Zeitgenossen die Kandidatur eines Politikers, der nicht einer der beiden großen christlichen Kirche angehört, in Baden-Württemberg für ausgeschlossen. Auch Kretschmann selbst sah zunächst nicht in Özdemir, sondern im Freiburger Oberbürgermeister Dieter Salomon seinen Nachfolger, der wollte allerdings nicht. Auch Özdemir zögerte, in die Landespolitik zu wechseln – doch das absehbare Scheitern der Ampel dürfte ihm die Entscheidung erleichtert haben.
Bei der Bundestagswahl 2021 war Özdemir der erfolgreichste Direktkandidat aller Parteien im Südwesten
Jetzt also Stuttgart statt Berlin – wobei das so nicht ganz stimmt. Denn seit 2009 trat Özdemir als Bundestagskandidat für den Wahlkreis Stuttgart I an, auch wenn er mit seiner Familie – mit der inzwischen von ihm getrennten Frau und zwei Kindern – die meiste Zeit in Berlin lebte. Bei der Bundestagswahl 2021 war er mit 40 Prozent der Stimmen der erfolgreichste Direktkandidat aller Parteien im Südwesten. Dennoch hatte ihn die Grünen zunächst wohl nicht auf dem Zettel, als es darum ging, die Kabinettsposten in der Ampel-Koalition zu besetzen.
Dass er als Mann, der Expertise in der Außenpolitik und im Verkehrsbereich hatte, am Ende doch noch Landwirtschaftsminister wurde, wohlgemerkt als erster Vegetarier, hat wohl auch mit einer Intervention Kretschmanns zu tun. So wurde es zumindest in Berlin berichtet. Als die Ampel-Koalition auseinanderbrach, übernahm Özdemir zudem kurzzeitig das Bildungsministerium der FDP-Kollegin Bettina Stark-Watzinger. Vom Doppelminister im Bund zum Grünen-Spitzenkandidaten im Südwesten, ohne weitere Funktion und mit wenig Aussicht auf Erfolg – das ist kein Aufstieg, aber Teil des politischen Geschäfts. Und Özdemir kennt die Spielregeln seit Langem.
Als Cem Özdemir 1994 zum ersten Mal in den Bundestag einzog, war er 28 Jahre alt und mit der erste türkischstämmige Abgeordnete. Die Parlamentarier tagten noch in Bonn, Helmut Kohl (CDU) wurde zum fünften Mal als Bundeskanzler gewählt, und die Brandanschläge von Rechtsextremen auf türkische Familien in Mölln und Solingen waren nur ein beziehungsweise zwei Jahre her. In den kommenden drei Jahrzehnten erlebte der Grünen-Politiker die Höhen und Tiefen, auch die selbstverschuldeten, die ein Berufspolitiker so erleben kann. Bundestagsabgeordneter, Europaparlamentarier, Parteivorsitzender, Fast-Außenminister, Ausschussvorsitzender, Minister. Dieser Weg von Bonn über Brüssel nach Berlin unterscheidet ihn von seinem Mitbewerber Hagel, dessen Karriere ausschließlich im Südwesten begründet ist. Doch Erfahrung allein bringt bekanntlich noch keine Wählerstimmen.
Was ihm wohl geholfen hätte: Wenn Kretschmann früher den Stab übergeben hätte, noch bevor die CDU ihr Veto gegen einen Ministerpräsidentenwechsel während der Amtszeit öffentlich erklärt hatte. Dann hätten sich die Bürgerinnen und Bürger in Baden-Württemberg an einen Landesvater Özdemir gewöhnen können – so wie die Hessen an den CDU-Politiker Boris Rhein als Nachfolger von Volker Bouffier und die Niedersachsen an den Stefan-Weil-Nachfolger Olaf Lies (SPD).
Seinen Eltern, argumentiert Özdemir, sei damals in Deutschland auch nichts geschenkt worden
Vielleicht ist es die scheinbare Chancenlosigkeit, die Özdemir nun reizt. Denn damit kennt er sich aus. In einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung sagte er vor knapp einem Jahr. „Mir wurde schon oft gesagt. Du wirst es nicht schaffen! Du wirst nie Deutsch lernen! Du wirst keinen Schulabschluss schaffen!“ Aber er habe all dies geschafft, weil es in Bad Urach, seiner Heimatstadt, Menschen gegeben habe, die an ihn geglaubt hätten, die ihn unterstützt und gefördert hätten. Auch seine Eltern, die beide als türkische Gastarbeiter nach Deutschland gekommen waren und inzwischen verstorben sind, sind in seinen öffentlichen Äußerungen immer wieder präsent. Von ihnen habe er gelernt, nie aufzugeben und auf andere Menschen neugierig zu sein, sagte er vor einigen Jahren der Welt.
Der damit verbundene Fleiß, Ehrgeiz, Aufstiegswillen und Arbeiterstolz – vielleicht hat ihn auch das von seiner Partei über die Jahre hinweg entfremdet. Dass er seine politischen Positionen mitunter verändert, hat ihm den Ruf eingebracht, allzu pragmatisch, wenn nicht gar opportunistisch zu sein. Während die Grünen sowohl im Bund als auch auf europäischer Ebene beispielsweise mit einer strikteren Migrationspolitik haderten, schrieb Özdemir in einem Gastbeitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung: „Wer einen wertvollen Teil zu unserem Land beitragen kann und will, ist willkommen. Wer nachweislich Schutz sucht, dem helfen wir. Für alle anderen haben wir keinen Platz.“ Sätze, die auch aus der Federr stammen könnten. Seinen Eltern, die in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft nach Deutschland gekommen waren, war aus Özdemirs Sicht auch nichts geschenkt worden.
Und was, wenn es schiefgeht? Wenn die Aufholjagd nicht so glückt, wie es sich die Grünen in Baden-Württemberg wünschen? Dann könnte Özdemir Landtagsabgeordneter werden, entweder als Direktkandidat für den Wahlkreis Stuttgart II oder über die Landesliste. Vielleicht kann er sogar Minister werden, sollte sich die CDU für eine Fortsetzung des Regierungsbündnisses mit anderer Machtverteilung entscheiden. Mit dem früheren Wirtschaftsminister und Grünen-Vorsitzenden Robert Habeck verbindet Özdemir die Idee, die Grünen in der gesellschaftlichen Mitte zu verankern. Doch anders als Habeck wird er sich für dieses Vorhaben in den kommenden Monaten nicht nur als Zaungast einsetzen können. Unterstützung aus Berlin kann der Wahlkämpfer in Baden-Württemberg zwar nicht erwarten – aber er muss auch keine Querschläge befürchten. Denn noch ist die Bundespartei nach den wenigen Jahren in Regierungsverantwortung mit sich selbst beschäftigt, in einer Art Selbstfindungsphase. Bis die abgeschlossen ist, dürfte die Landtagswahl im Südwesten schon längst vorüber sein.
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