Mit einem flammenden Appell in der Lokalzeitung begann vor 100 Jahren eine neue Ära. Der Autor rief die Leserschaft zum Besuch einer Versammlung auf.
Viel stehe auf dem Spiel, schrieb Landwirtschaftsrat Rudolf Scholter in blumiger Sprache: „Es geht um die Erhaltung und Förderung des einzigartigen, köstlichen Besitztums unseres Allgäus, es gilt der Sicherung und Pflege unserer Alpweiden, dem ewigen Jungbrunnen unserer Viehzucht! Kein echter Allgäuer darf daher (...) fehlen.“ Wenige Tage später, am 8. März 1925, strömten zahlreiche Politiker, weitere Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens und Alphirten in den damaligen „Bayerischen Hof“ in Immenstadt. Dort wurde der Alpwirtschaftliche Verein Allgäu (AVA) gegründet, der bis heute großen Einfluss hat.
Kulturlandschaft - was bedeutet das genau?
Ihm gehören etwa 1800 Mitglieder an, darunter Hirten, Senner, Genossen, Eigentümer und Pächter. Damals wie heute vertritt er die Anliegen der Alpwirtschaft gegenüber Politik, Behörden und Verbänden. Die Dimension der Alpwirtschaft im Allgäu ist bundesweit wohl einzigartig: 32.000 Stück Vieh verbringen den Sommer auf den 700 Alpen. Von einer Erfolgsgeschichte spricht Geschäftsführer Dr. Michael Honisch vor der Feier am 6. April im Haus Fiskina in Fischen: „Die Leistungen der Alpwirtschaft sind hoch angesehen. Älpler sind Teil des Ökosystems, kein Störfaktor. Der AVA setzt sich auch weiterhin dafür ein, die Kulturlandschaft im Allgäu zu erhalten und zu gestalten.“ Doch was bedeutet Kulturlandschaft eigentlich genau?
So viele Alphütten gibt es im Allgäu
Gemeint ist, dass die Landschaft von Menschen geprägt wurde. Das gilt – mit Bezug auf die Alpwirtschaft – vor allem für das Oberallgäu. In den dortigen Bergen steht der Großteil der über 700 bewirtschafteten Alpen im Allgäu: nämlich 640. Deutlich weniger sind es im Ostallgäu (32) sowie im Westallgäu (32). Damit Weiden und Alphütten entstanden, rodeten Menschen schon vor Hunderten von Jahren Wald. Das Erscheinungsbild der Landschaft veränderte sich nach und nach. Durch die extensive Mahd und die Weide-Haltung seien besonders artenreiche Rasenflächen in 1500 bis 2000 Metern Höhe entstanden, schreiben Forschende des Naturkundemuseums Karlsruhe. Sie untersuchten vor einigen Jahren die Artenvielfalt auf der Einödsberg-Alpe bei Oberstdorf. Über 1300 Arten von Pflanzen und Tieren wurden in dem etwa 100 Hektar großen Gebiet nachgewiesen.
„Älpler tragen entscheidend zur Biodiversität bei“
„Das weidende Alpvieh in den Bergen, unterstützt durch die Arbeit der Älplerinnen und Älpler, trägt entscheidend zur Biodiversität bei“, sagt Honisch. Bis heute werden die Weiden durch das Schwenden (frühzeitiges Entfernen der Büsche und Gehölze) von Älplern offen gehalten. So gedeihen zum Beispiel seltene Bergblumen. Zur Artenvielfalt trägt auch der Kuhdung bei. „Eine Studie hat ergeben, dass bis zu 4000 Insekten von einem Kuhfladen leben können“, sagt Honisch.
Früher hätte das wohl niemanden interessiert. Die Bauern waren vor allem froh, wenn sie ihre Tiere in die Obhut der Hirten gaben. Damit sparten sie Futter und Arbeit - und bezahlten die Älpler. Heute spielt dieser Lohn eine untergeordnete Rolle. „Ohne staatliche Förderung könnte die Alpwirtschaft kaum existieren“, sagt AVA-Vorsitzender Christian Brutscher. Mit den Zuschüssen werden auch die „Gemeinwohlleistungen“ der Älpler honoriert. Die gepflegte Landschaft dient neben der Biodiversität dem Tourismus. „Bis oben bewaldete Berge ohne Alplichtungen werden seltener besucht als solche mit freien Gipfelfluren“, heißt es in einer Dokumentation der Staatsregierung. Auch der Andrang bei den Viehscheiden oder an den 42 Sennalpen verdeutlicht die Bedeutung für den Tourismus. (Lesen Sie auch: Er macht den aktuell besten Allgäuer Alpkäse: So arbeitet Senn Martin Rinderle auf der Alpe Laufbichl)
Alpwirtschaft im Allgäu: Deshalb tut der Bergsommer den Tieren gut
Damals wie heute ist auch das Tierwohl wichtig: „Geälpte Tiere haben Auslauf und dank der vielen Bergkräuter ein hervorragendes Futter. Bewegung, frische Luft: All das trägt zu ihrer gesunden Entwicklung bei, das wissen Züchter sehr zu schätzen“, sagt Honisch. Doch die Alpwirtschaft steht auch vor Herausforderungen. Dazu zählt der Klimawandel mit zunehmenden Unwettern oder Sommern mit wenig Wasser, die Bürokratie und der Wolf, durch den die Älpler ihre Tiere bedroht sehen. Regelmäßig kommt es bei letztgenanntem Thema zum Streit zwischen dem AVA und dem Bund Naturschutz (BN). Das habe nichts mit genereller Abneigung zu tun, sagt Michael Finger, Vorsitzender der BN-Gruppe Oberstdorf/Fischen: „Die Alpwirtschaft ist richtig und wichtig.“ Diplomatisch fügt er an: „Wir stehen auf der derselben Seite, blicken manchmal aber in unterschiedliche Richtungen.“
Auch auf den Alphütten gab es immer wieder Veränderungen
Obwohl mancher es kaum glauben mag: Auch in der Alpwirtschaft gab es immer wieder Umbrüche. Noch vor hundert Jahren wurden viel mehr Kühe in die Berge getrieben. Heute ist es zu 90 Prozent Jungvieh. Unter großem Druck stand die Alpwirtschaft vor und während des Zweiten Weltkriegs, als sich kaum Alppersonal fand.
Heute erreichen den AVA viele Anfragen von Nah und Fern. Auch der Nachwuchs steht parat: „Älplerische Tradition und Werte“, sagt Honisch, „werden in vielen Familien gelebt und weitergegeben.“
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