„Es ist traurig zu sehen, dass mancher Krankheitsverlauf durch eine rechtzeitige Behandlung hätte vermieden werden können“, sagt Dr. Sascha Chmiel, Chefarzt und Kardiologe der Klinik St. Josef in Buchloe. Während der ersten Corona-Hochphase im März und April hatten zahlreiche Allgäuer Ärzte Alarm geschlagen.
Mediziner an Kliniken und im ambulanten Bereich stellten damals fest, dass viele Menschen Krankenhäuser und Arztpraxen mieden – zum Teil wohl aus Angst, sich dort mit dem Corona-Virus zu infizieren. Chmiel beobachtet jetzt, dass es beispielsweise im Kardio-Bereich einige Fälle gibt, die weitaus schwieriger und langwieriger verlaufen, als es sein müsste.
Er und die anderen Chefärzte des Klinikverbunds Ostallgäu, zu dem die Häuser in Kaufbeuren, Füssen und Buchloe gehören, mahnen weiter an: Menschen mit gesundheitlichen Problemen sollten umgehend ihren Hausarzt oder Notaufnahmen aufsuchen.
Herzinfarkt nach nicht wahrgenommenem Termin
„Das Problem ist nicht entstanden, weil Routine-Operationen verschoben wurden“, stellt Chmiel klar. Viel gravierender sei es, dass unter anderem in der Kardiologie Termine von den Patienten abgesagt oder gar nicht erst ausgemacht wurden. „Ich erinnere mich an Fälle, bei denen bestehende Termine für eine Herzkatheter-Untersuchung nicht wahrgenommen wurden und die Betroffenen dann als Notfall mit einem Herzinfarkt eingeliefert wurden.“
Häufig hätten auch Patienten mit chronischer Herzschwäche Symptome wie Atemnot über Wochen ignoriert, obwohl sie wussten, dass in solchen Fällen ein Besuch beim Arzt nötig gewesen wäre. „Wir kriegen auch solche Fälle wieder hin, aber es dauert länger. Die Krankheitsverläufe sind komplizierter. Wenn die Patienten Atemnot haben, ist oft Wasser in der Lunge die Ursache. Ohne Behandlung kommt es häufig zu Lungenentzündungen.“
Mittlerweile kommen laut Chmiel zwar wieder mehr Patienten, die Zahlen in der Kardiologie und der Notaufnahme seien aber noch nicht auf dem Niveau, wie es vor Corona war. (Lesen Sie auch: Wie hoch ist die Corona-Gefahr beim Zahnarzt?)

Lage im Ostallgäu entspannt sich nur langsam
Anders sieht es beim Klinikverbund Allgäu aus, der die Einrichtungen in Kempten, Immenstadt, Sonthofen, Oberstdorf, Ottobeuren und Mindelheim umfasst. Vermehrte Folgeerscheinungen von zu spät behandelten Krankheiten beobachten die Mediziner dort laut Geschäftsführer Andreas Ruland nicht.
Im Juni, Juli und August seien in den Notaufnahmen zudem fast gleich viele Patienten wie in den gleichen Monaten im Vorjahr verzeichnet worden. Eine mögliche Erklärung: „Wir waren nie Corona-Hotspot. Größere Ausbrüche in Seniorenheimen oder ähnlichen Einrichtungen gab es beispielsweise im Oberallgäu nicht“, sagt Ruland.
Auch Chmiel vermutet, dass das der ausschlaggebende Grund ist, warum sich die Lage im Ostallgäu zögerlicher entspannt. Beispielsweise sind im Senioren- und Pflegeheim Waal fast 20 Bewohner und Mitarbeiter an Covid-19 gestorben.
„Ich glaube, das ist bei den Menschen im Kopf hängen geblieben.“ In Gesprächen mit Patienten hat Chmiel festgestellt, dass gerade ältere Menschen Angst hatten und haben, sich im Krankenhaus mit Corona anzustecken oder dort wegen der Besuchseinschränkungen allein zu sein.
Wichtige Arztbesuche wegen Corona absagen "medizinisch höchst bedenklich"
„Menschlich kann ich das natürlich schon nachvollziehen, aber medizinisch ist das höchst bedenklich“, sagt der Chefarzt. Er fürchtet, dass die Verunsicherung der Menschen entsprechend der Corona-Fallzahlen wieder steigen könnte. Der Mediziner will auf jeden Fall verhindern, dass die Menschen sich von Kliniken und Arztpraxen fern halten.
Dafür sei vor allem viel Aufklärungsarbeit wichtig. „Niemand, der geplant oder ungeplant ins Krankenhaus kommt, muss sich Sorgen machen. Auf die umfassenden Hygienekonzepte ist sicher verlass. Die Gefahr, sich anzustecken ist außerhalb der Klinken weitaus größer“, sagt Chmiel.