Wie in einem Endzeit-Kinokracher à la Hollywood kam sich Murat Parlak vor, als er am Sonntagnachmittag mit dem Auto von München nach Kempten fuhr. „Eine gespenstische Fahrt“, sagt er. „Ich hab nur zwei Autos auf der Autobahn überholt. Die Straße war wie leergefegt. Der volle Wahnsinn, so etwas habe ich noch nicht erlebt.“ Der Wahnsinn sollte sich abends im Künstlerhaus in Kempten fortsetzen. Denn in der Musikkneipe servierte der Allgäuer Pianist und Sänger beim „AÜW-Kultstream“ eine gute Stunde lang Interpretationen von Pop-, Rock- und Soul-Hits – ohne sichtbares Publikum. „Ich wusste manchmal gar nicht, was ich sagen sollte“, erzählt der 44-Jährige.
Kein Wunder, denn vor ihm und Schlagzeuger Claus Barensteiner blieben die Stühle wegen Corona leer: Nur zwei Techniker waren anwesend und brachten das Konzert online in die Wohnzimmer der Musik-Fans.
>>> Fortsetzung: Die nächste AÜW-Kultstream-Staffel findet am Wochenende eine Fortsetzung. Als nächstes gibt es ein Konzert mit Vuimera (Freitag, 17.4., 19.30 Uhr) und einen Poetry Slam (Samstag, 18.4., 19.30 Uhr). Die Aktionen sind online hier abrufbar. <<<
AÜW-Kultstream: Nicht nur Allgäuer als Zuschauer
Unter den Hunderten Zuschauern waren nicht nur Allgäuer. „Ich habe SMS von Fans aus Amsterdam, Mailand und der Schweiz bekommen“, sagt Parlak. Das Konzert habe Spaß gemacht, obwohl etwas Wichtiges fehlte. „Ich will eigentlich immer den Schweiß des Publikums riechen können“, sagt er und lacht. Ähnlich erging es zum Auftakt der Reihe Leonie Leuchtenmüller. „Sehr bizarr, so ganz ohne Publikum zu singen.“ So beschreibt die 32-Jährige die Konzertatmosphäre im Künstlerhaus. Sie habe sich einfach vorgestellt, dass „dort draußen viele Leute zuschauen“. Augen zu und durch also? Nein, so einfach war es nicht. „Ich war wahnsinnig aufgeregt.“

Die Zuschauer zuhause merkten dies zwischen den Songs. Was fehlte, war das Klatschen. „Der Applaus gibt einem Energie und lässt einen kurz zur Ruhe kommen“, sagt die Kemptenerin. Doch beim Online-Konzert sei sie nonstop unter Strom gestanden. Mit Pianist Andreas Schütz und Bassist Frank Thumbach stellte sie nicht nur ihren Mutmacher-Song „Alles wird gut“ vor, sondern führte in einem Geburtstagsständchen fürs Allgäuer Überlandwerk (AÜW) auch zwei Welten charmant zusammen: „Schön, dass du geboren bist“ von Rolf Zuckowski und „Happy Birthday“ von Stevie Wonder.
Eigentlich hatte das Kemptener Energieversorgungs-Unternehmen sein 100-jähriges Bestehen feiern wollen, wie es sich gehört: mit einem Fest mit vielen Menschen unter freiem Himmel. Doch die Corona-Krise durchkreuzte diese Pläne. Dafür gibt es jetzt den „AÜW-Kultstream“. Das Motto: „Wir feiern gemeinsam – mit social distancing“.
Ungewohnte Situation für die "Wendejacken"
Die Live-Übertragungen aus dem Kemptener Künstlerhaus sind über eine AÜW-Internetseite abrufbar. Eine Ausnahme war die Show der „Wendejacken“ am Montag. Das auf Interaktion angelegte Improtheater wurde über Facebook gestreamt. Denn nur über die dort angebotene Kommentarfunktion konnten die Zuschauer den Spielern, die jeweils zuhause saßen, Vorgaben machen. „Es war für uns schon eine komische Stimmung, so ganz ohne Publikum vor der Kamera zu spielen“, sagt Nadine Schneider.

Mit ihren Kollegen konzentrierte sie sich auf Improtheater-Formate, die vor allem auf Sprache setzen. So schlüpfte Schneider in die Rolle eines geschwätzigen Bonsai-Bäumchens, das für alle sichtbar in der Wohnung von Mitspielerin Anna Hindelang stand. Als Multitasking-Talent hielt Norman Graue die Fäden der Online-Show, die von Keyboarder Anton Dirnberger musikalische begleitet wurde, in der Hand: Er moderierte, hatte die Bildregie und mischte den Ton. Letzteres machte Probleme: Nicht immer waren Sprüche und Dialoge gut zu hören. Ein Grund waren die verschiedenen Mikrofone der Spieler, sagt Graue.
Jeweils etwa 450 Zuschauer verfolgten den Impro-Spaß der Wendejacken und das Konzert der „Soul Babies“ Parlak/Barensteiner, 200 sahen bei Leonie Leuchtenmüller zu, erklärt AÜW-Pressesprecher Stefan Nitschke. „Dieser Erfolg gibt uns Rückenwind für die folgenden Übertragungen.“ Die Auftritte sollen auch später auf dem Youtube-Kanal des AÜW zu sehen sein.
Publikum soll für Künstler spenden
Was Nitschke freut, ist die Spendenbereitschaft des Publikums. Mit dem „Kultstream“ will das AÜW in Corona-Zeiten finanziell gebeutelten Allgäuer Profikünstlern unter die Arme greifen. Das AÜW finanziert Technik, Location und Streaming, während die gewünschten Spenden der Zuschauer den Künstlern sowie dem Künstlerhaus-Verein zugutekommen. Spendierfreudig zeigten sich (Stand Mittwoch) die Wendejacken-Fans (1.600 Euro); die „Soul Babies“ erhielten 769 Euro, Leonie Leuchtenmüller 532 Euro. Es kann aber weiterhin gespendet werden ...
