Es ist kurz vor Weihnachten, als das Klinikum Memmingen die Polizei einschaltet. Es geht um den Verdacht, dass Eltern ihre Kinder misshandelt haben. Ärzte haben zuvor bei den drei Monate alten Zwillingen Verletzungen festgestellt, die auf ein starkes Schütteln zurückzuführen seien. Bei den Babys handelt es sich um einen Buben und ein Mädchen, "akute Lebensgefahr" besteht nicht.
Aber: Die Kopfverletzungen bei dem Jungen werden von den behandelnden Ärzten als "potentiell lebensbedrohlich" eingeschätzt. Noch laufen die Ermittlungen. Für Ärztinnen und Ärzte sind solche Fälle herausfordernd.
Denn wenn Eltern ihr Baby heftig schütteln, kann das schwerwiegende gesundheitliche Folgen haben: "Äußerlich ist bei einem Schütteltrauma oft nicht viel zu sehen", sagt Cordula Henrichs, Oberärztin am Klinikum Memmingen. Wie Mediziner damit umgehen, erläutert sie zusammen mit Professor Dr. David Frommold, dem Leiter der Kinder- und Jugendabteilung.
Geschüttelte Babys am Klinikum Memmingen
Werden Kinder in die Klinik gebracht, geht der Dienstarzt eine Checkliste durch, erläutert Henrichs. Er achte dabei auch auf Warnhinweise. Welche das sein können? Blaue Flecken bei Säuglingen, die noch gar nicht mobil sind, zum Beispiel. "Flecken, für die es keine Erklärung gibt", sagt Henrichs. Fehlt diese, werden Ärzte stutzig und suchen weiter. "Man muss aufmerksam sein", sagt die Oberärztin.
Chefarzt Frommhold ergänzt: Es gehe auch um ungewöhnliche Brüche. Das sei zum Beispiel dann der Fall, wenn mehrere Knochen gleichzeitig gebrochen sind, die mit einem geschilderten Unfall aber nicht in Zusammenhang stehen. "Man muss einfühlsam sein und gründlich untersuchen", betont Frommhold. Die Täter seien oft Verwandte. "Man will aber niemanden zu unrecht verdächtigen."
Keine voreiligen Schlüsse ziehen
Man dürfe nicht voreilig den Rückschluss auf eine Kindeswohlgefährdung ziehen. Der Chefarzt nennt Beispiele: Blaue Flecken können auch entstehen, wenn jemand an Hämopholie leidet - das wird häufig als "Bluterkrankheit" bezeichnet. Oder bei Knochenbrüchen könne auch die Glasknochenkrankheit verantwortlich sein.
Bei einem Verdacht gibt es aber keine Einzelentscheidung, wie Henrichs sagt: "Das wird im Team besprochen und bewertet." Henrichs ist auch Leiterin der Kinderschutzgruppe am Klinikum. Mehrere Experten, also Ärzte, Pflegekräfte, Psychologen und der Sozialdienst, sind dann mit den Fällen, wo möglicherweise Missbrauch oder Kindeswohlgefährdung vorliegt, beschäftigt. Henrichs vergleicht die Arbeit mit einem Puzzle - viele Teile werden gesammelt und zusammengesetzt. Das Ziel: Man will ein ganzheitliches Bild bekommen.
Wie viele Babys kommen mit einem Schütteltrauma ins Krankenhaus?
Jährlich werden schätzungsweise zwischen 100 und 200 Säuglinge und Kleinkinder mit Schütteltraumata in deutsche Kliniken gebracht, schreibt das "Nationale Zentrum Frühe Hilfen", das unter anderem vom Familienministerium gefördert wird. Dort heißt es weiter: "Fachleute gehen von einer hohen Dunkelziffer aus, da nicht alle betroffenen Kinder medizinisch behandelt werden."
Warum schütteln Eltern ihre Babys überhaupt? Einer der Hauptauslöser ist laut dem Nationalen Zentrum Babyschreien: Manchmal könnten Babys nicht beruhigt werden, alle Versuche der Eltern blieben erfolglos. "Dies kann bei den Eltern Gefühle der Hilflosigkeit, Frustration und Wut auslösen und schließlich zum Schütteln des Kindes im Affekt führen."
Das bestätigen auch die Mediziner aus Memmingen: In den seltensten Fällen agierten Eltern aus bösem Willen heraus, Vorsatz oder Absicht steckten oft nicht dahinter. Meistens sei Überforderung der Grund. Das Klinikum arbeite eng mit den Jugendämtern zusammen, die über das weitere Vorgehen entscheiden und beim Thema Kindeswohlgefährdung prüfen. "Bei ganz harten Indizien informieren wir die Polizei", sagt Frommhold. Da bestehe Gefahr in Verzug.
Wie ist der Stand der Ermittlungen?
Auch in dem jüngsten Fall informierte das Memminger Klinikum die Polizei. Die Eltern selbst hatten die Säuglinge ins Krankenhaus gebracht. Die Ermittler gehen weiterhin von einer Misshandlung der Kinder und "nicht von einem Unfallgeschehen" aus, teilt eine Polizeisprecherin mit. Der Tatverdacht richte sich gegen die Eltern. Die Beamten ermitteln weiter und warten zum Beispiel noch auf ein rechtsmedizinisches Gutachten.
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