Sehr geehrter Herr Söder, pardon, ich bin es schon wieder. Mir sind noch ein paar Dinge aufgefallen, und da Sie auf meinen Brief vor zwei Wochen bislang nicht reagiert haben, schiebe ich einige Fragen nach, dann können Sie gleich alles auf einmal beantworten und sparen eine Briefmarke. Ich möchte aber wirklich nicht drängeln, Sie wissen sicher manchmal nicht mehr, wo Ihnen der Kopf steht, weil jeden Tag etwas anderes gilt. Wobei: Da geht’s Ihnen nicht anders als vielen anderen Menschen, den Einzelhändlern zum Beispiel.
Es ist schon ein Gfrett mit Ihrer Öffnungsmatrix, oder? Sie waren offenbar im Worterfindungsrausch, aber um die Folgen Ihrer Schöpfungen zu verstehen, ist schon etwas Distanzunterricht nötig. Doch selbst wer verinnerlicht hat, ab welchem Inzidenzwert man heute wo wie was einkaufen darf, sollte morgen nicht einfach zum Fachgeschäft seines Vertrauens fahren. Denn da im Schlachthof Buchloe 80 Mitarbeiter infiziert sind, müssen zum Beispiel in Füssen die Modeläden schließen. Dazwischen liegen zwar 50 Kilometer Landstraße, aber beide Städte gehören zum Ostallgäu und die Zahl der dort infiziert Wohnenden besagt, wer im Kreis was wie verkaufen darf. Hätte man das bei der Gebietsreform 1972 gewusst, wäre vielleicht manche Grenze anders gezogen worden. (Die aktuellen Corona-Regeln finden Sie hier.)
Corona-Regeln: Jeder Eingriff in die Freiheitsrechte muss geeignet sein
Das Problem ist aber, und jetzt werde ich wieder ernst, Herr Söder, dass viele Menschen das nicht verstehen. Darunter leidet das Vertrauen in Politiker stärker als unter der Tatsache, dass einige Abgeordnete aus Ihrer Union sich die Taschen mit Summen füllen, die eine zu Recht hoch gelobte Supermarkt-Kassiererin im ganzen Berufsleben nicht verdienen wird – nur weil diese Herren einmal dabei geholfen haben, ein Problem zu lösen (bitte erklären Sie denen einmal, dass es ihr Beruf ist, Probleme zu lösen, und dass sie dabei nicht nur die Abstandsregeln einzuhalten haben, sondern auch die des Anstands). Sie bekommen aber womöglich noch ein anderes Problem, Herr Söder, wenn Sie das Buchloe-Füssen-Dilemma durchschnittlich gebildeten Menschen nicht einsichtig machen können: Jeder Eingriff in deren Freiheitsrechte muss geeignet, erforderlich und angemessen sein. Ich bin gespannt, wie Verwaltungsrichter Ihre Schließungsmatrix bewerten.
"Wir wurschteln weiter von Woche zu Woche"
Eines muss ich allerdings zugeben: Ich habe keine bessere Lösung. Alle Läden dicht zu lassen, funktioniert nicht. Alles zu öffnen, wohl auch nicht, das Virus ist ja nach wie vor gefährlich. Als Bezugsgröße nicht die Kreise, sondern zum Beispiel das ganze Allgäu zu nehmen, macht es womöglich auch nicht dauerhaft besser. Was also tun? Ach, womöglich täte auch mir etwas fränkisch-buddhistische Gelassenheit gut, Herr Söder. Denn eine Konstante gilt ganz sicher seit einem Jahr: Ich habe mich mittlerweile daran gewöhnt, dass ich mich innerhalb von zwei Wochen an etwas gewöhne, was zuvor noch völlig ungewöhnlich war.
Also alles gut? Mitnichten. Wir kommen so nicht voran, Herr Söder, sondern wurschteln weiter von Woche zu Woche. Mein Platz ist zwar in Bayern, aber mein Impfstoff und der für Millionen andere noch nicht. Von allen versprochenen Tests ist bislang auch nur der auf allgemeine Leidensfähigkeit für alle frei verfügbar. Nein, ich schlage nicht vor, dass die kontaktfreudigen Herren Nüßlein und Sauter Sie unterstützen. Aber es wäre schön, wenn zum Beispiel die Hausärzte tatsächlich ab April impfen könnten. Die schaffen das. Und ich kann mich auch daran gewöhnen, dass Versprechen gehalten werden.
Herzlichst, Uli Hagemeier