Das Füssener Kammermusikfestival Vielsaitig hat in seiner 19-jährigen Geschichte so manche Überraschung gebracht. Erstmals stand nun das amerikanische Kunstlied auf dem Programm. In Europa wurde bereits im ausgehenden 18. Jahrhundert das Kunstlied von klassischen Komponisten gepflegt. Im 19. Jahrhundert erreichte es dort seinen Höhepunkt mit den romantischen Komponisten. In Amerika setzte diese Entwicklung erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein und prägte eine eigene Stilrichtung, von der man Kostproben im Kaisersaal des ehemaligen Benediktinerklosters hören konnte. Diese Gattung scheint der amerikanischen Sopranistin Robin Fisher am Herzen zu liegen. Mit volltöniger Stimme und klaren dynamischen Abstufungen präsentierte sie einen Querschnitt der wichtigsten Komponisten, aber auch Komponistinnen. Fisher gehört zu den „Freunden“ des Verdi-Quartetts und fügt sich so sehr treffend ins diesjährige Motto des Festivals. Begleitet wurde sie am Flügel von Hatem Nadim, der sich perfekt in diese besondere musikalische Klangwelt eingefügt hat.
Extrem hoher Schlusston
Mehrmals standen Werke von John Woods Duke (1899 - 1984) auf dem Programm, der mit 260 Liedern als bedeutendster Vertreter des amerikanischen Kunstliedes gilt. In „Viennese Waltz“ integrierte er einen Wiener Walzer. Bei „Rapunzel“ zeigte Fisher die Dramatik des Märchens. Nach einer Generalpause endete das Lied mit einem extrem hohen Schlusston, den die Sopranistin meisterhaft traf. Schauspielerische Einlagen brachte Fisher im spannungsgeladenen „Bee! I’m Expecting You!“ mit nicht einfacher, halsbrecherischer Klavierbegleitung.
Ein weiterer wichtiger Vertreter der amerikanischen Kunstliedgattung ist Richard Hundley. Sein „Maiden Snow“ überlässt die rezitativische Melodieführung fast ausschließlich der Gesangsstimme. „Will There Really Be A Morning“ würde sich als Filmmusik eignen. Hugo Weisgalls „Song“ hat sein Vorbild vermutlich in Carl Orffs „Carmina Burana“. Geheimnisvoll präsentierten die beiden Künstler „Tell Me Trees“ vom Adolphus Hailstork. „A June Day“ des russischen Emigranten Sergius Kagan fordert eine treffsichere Intonation. Lange nach oben steigende Vor- und Zwischenspiele meisterte Hatem Nadim in „Flying“ von Harrison Leslie Adams.
Komponistinnen dürfen nicht fehlen
Natürlich dürfen in dieser Gattung Komponistinnen nicht fehlen. Eine ruhige, bezaubernde Abendstimmung mit einem wiegenden Rhythmus am Schluss vermittelte das Lied „Night“ von Florence Price. Temperamentvoll präsentierte Fisher „Who’ll That Be?“ von Helen Medwedeff Greenberg, einem der freudigsten Lieder des Abends. Lori Laitman komponierte über 300 Kunstlieder. Von ihr erklang „I’m Nobody!“ Mit einem Satz aus der Klaviersuite „Dreaming“ von Amy Beach sorgte Nadim für Abwechslung. Hier dürfte wohl ein Nocturne von Chopin Pate gestanden haben.
Zwischenapplaus bei "Toothbrush Time"
In ganz andere Klangwelten führten vier Lieder aus dem Ophelia-Zyklus des 1961 geborenen Jake Heggie. Sie handeln von Ophelia aus Shakespeares Hamlet, die als verzweifelte Schönheit den Freitod im Wasser wählt. Höhepunkt des Abends waren zwei Werke von William Bolcom, die Potenzial für ein Musical haben: Nach dem mit afroamerikanischen Elementen durchsetzten „Toothbrush Time“ gab es Zwischenapplaus. Mit zackiger Klavierbegleitung und der bezirzenden Interpretation von „Amor“ endete der Liederabend mit einem Hauch der Sopranistin, die bei diesem Titel noch einmal das gesamte Spektrum ihres Könnens zeigen konnte.