Nach dem hell und klar singenden Hahn aus Geoffrey Chaucers „Canterbury Tales“ hat sich vor 40 Jahren das US-amerikanische Gesangsensemble Chanticleer benannt. Eine gute Wahl. Denn klar und hell ist der Klang dieses Männerchores. Beim Füssener Festival Vielsaitig unterstrich das Ensemble seine außergewöhnliche Klasse. 140 Zuhörer zeigten sich im Refektorium des Barockklosters St. Mang begeistert.
Wer die Augen schließt, hört mehr: Volumen und Transparenz der Stimmen sind frappant und machen staunen. Man glaubt mehr als zwölf Sänger zu hören. Und dann zählt man die Sänger, doch es sind und bleiben zwölf: sechs Countertenöre (in den hohen Stimmlagen von Sopran und Alt), drei Tenöre, ein Bariton und zwei Bässe. Jeder einzelne ist ein Könner – und ein Gestalter. Mitunter übertreibt es der ein oder andere Countertenor, drängt sich allzu forsch jubilierend in den Vordergrund. Doch die anderen holen ihn dann schon wieder herunter – von Wolke sieben. Ungemein elegant, dicht verwoben, hell und transparent ist der Ensemble-Klang, der dem Chor auch den Beinamen „Orchester der Stimmen“ einbrachte.
Ungewöhnlich ist, dass die zwölf Sänger ohne ihren musikalischen Leiter William Fred Scott auftreten. Ganz am Anfang gibt es vielleicht noch leichte Abstimmungsprobleme und Intonationstrübungen. Aber mit fortlaufender Dauer wirkt vieles wie aus einem Guss. In wechselnden Aufstellungen singen sich die zwölf Männer durch die Jahrhunderte.
Ein Genuss sind die Madrigale „Ecco mormorar l’onde“ und „Sfogava con le stelle“ von Claudio Monteverdi (1567 bis 1643). Sehr schön reduziert mit nur sieben Stimmen erklingt „O domina sanctissima“ von Francisco de Peñalosa (1470 bis 1528). Ergreifender Höhepunkt vor der Pause ist aber die „Missa o soberana luz“ des Portugiesen Filipe de Magalhães (1571 bis 1652): Hier spielt der Chor alle seine Stärken aus – und erhält langen, lautstarken Applaus.
Aber Chanticleer kann auch modern grooven: Dann schnippen die Sänger mit den Fingern, stimmen „La-la-la“ an (Trade Winds) oder performen später lässig den Jazzstandard „Blue Skies“ von Irving Berlin. Nach der Pause gibt es eine kleine Auswahl an traditionellen und modernen Liedern aus dem Pazifik. Da verwandelt sich das Refektorium in eine Voliere: Die Sänger imitieren Vögel und Geräusche, und man meint Waschfrauen singen und Arbeiter werkeln zu hören. Famos. Auch wohlige Shanties und ein wärmendes Spiritual stimmt der Chor an. Das klingt nach einem wilden Durcheinander, ist es aber nicht. Der homogen-harmonische Chanticleer-Sound fügt Altes und Neues wundersam und wie selbstverständlich zusammen.
Dass der Ausnahmechor nach Füssen kam, ist dem Pianisten Hatem Nadin zu verdanken, der schon beim ersten Vielsaitig-Festival im Jahr 2003 dabei war und seitdem regelmäßig das Verdi Quartett und dessen Meisterkursteilnehmer begleitet. Der gebürtige Ägypter mit deutschem Pass und Wohnsitz in den USA lernte den Chanticleer-Chor vor vielen Jahren in San Francisco kennen und empfahl ihn den Füssener Festivalmacher. „Wir haben es immer wieder probiert, aber erst jetzt hat es geklappt“, sagt Kulturamtsleiterin Karina Hager und freut sich, dass der Männerchor bei seiner Jubiläumstour einen Abstecher nach Füssen machte.
Äußerst zufrieden zeigt sich Hager mit dem Festivalverlauf. Die jeweils 140 Sitzplätze von Kaisersaal und Refektorium waren bei den neun Konzerten fast immer vollbesetzt. Das Motto „ver-rückt!“ sei beim Publikum sehr gut angekommen. Es war ein wilder Mix aus Klassik, Jazz, Literatur, Musikkabarett, A-cappella-Gesang und japanischer Trommel-Akrobatik. Der Termin für das 18. Vielsaitig-Festival steht bereits (26. August bis 5. September 2020), das Motto aber nicht. „Es muss noch etwas reifen“, sagt Karina Hager und lacht.