Sie hat sie inzwischen oft genug erlebt, die sportliche Achterbahnfahrt innerhalb eines Jahres. Und doch hat 2019 bei Nadine Rieder die bisher tiefsten Spuren hinterlassen – in jeder Hinsicht. Erfolgreich wie nie war die 30-jährige Mountainbikerin ins Jahr gestartet, ehe eine Verletzung – so hartnäckig wie nie – die Sonthoferin zum Zusehen verdammte. Nach einer Blitz-Reha folgte die emotionale 180-Grad-Wendung: ein „goldener September“. „Dieses Jahr war sehr bewegt, aber insgesamt auf jeden Fall ein Schritt nach vorne“, sagt Rieder. „Klar, die Verletzung liegt wie ein Schatten auf dem Jahr. Aber es hat so gut angefangen, wie es aufgehört hat – das zählt.“
Dabei hatte die 30-Jährige, die seit dem vergangenen Jahr für den RSC Kempten startet, gleich zu Beginn des Jahres mit dem Sieg beim Snow-Festival im Schweizer Gstaad aufhorchen lassen. Was folgte, war die Erfüllung eines Kindheitstraums. An der Seite der Mountainbike-Legende Sabine Spitz, 20-fache deutsche Meisterin und Gewinnerin von 16 WM-Medaillen, fuhr Rieder beim ruhmreichen „Cape Epic“ in Südafrika auf Rang vier. „Das war ein besonderer Moment meiner Karriere. Es heißt, das ist das härteste Rennen der Welt“, sagt Rieder. „Und damit ist ein Traum in Erfüllung gegangen.“
Mit diesem Prestige-Erfolg im Rücken näherte sich die Oberallgäuerin nach und nach ihrer Top-Form – bis zum Weltcup in Nove Mesto. Mit Rang sieben feierte Nadine Rieder in Tschechien das beste Weltcup-Resultat ihrer Karriere vor der atemberaubenden Kulisse von insgesamt 12 000 Zuschauern. „Das ist einer der schönsten Weltcups – von den Besucherzahlen und was die Atmosphäre betrifft“, sagt Rieder und fügt an: „Da habe ich gesehen, dass ich an der Weltspitze mitfahren kann.“ Doch einmal mehr in der Laufbahn der neunfachen Medaillengewinnerin bei deutschen Meisterschaften sollte der Höhenflug jäh enden. Nur wenige Wochen später, bei der „Deutschen“ in Wombach, hatte Rieder bereits Silber im Sprint gewonnen, als es im Cross-Country-Rennen zu dem folgenschweren Sturz kam.
„Ich bin gestürzt und auf einer Wurzel gelandet – erst im Ziel habe ich gemerkt, dass der Oberschenkel schmerzt“, erinnert sich Rieder. Nachdem sie anfangs nicht mehr als eine Schürfwunde vermutet hatte, trainierte sie in der Folge weiter und wagte sich trotz weiterer Schmerzen an den Weltcup in Andorra – und das, obwohl ihr Arzt Florian Porzig bereits erhebliche Mengen an Flüssigkeit aus dem Oberschenkel abgesaugt hatte. Im Short Track hat Rieder aufgegeben, wurde im Cross Country 41. und erlebte ein ähnliches Szenario in der darauffolgenden Woche beim Weltcup im französischen Les Gets. Der Oberschenkel wurde dicker, Porzig musste wieder ran. „Es war frustrierend, weil es im zweiwöchigen Rhythmus immer wiederkam.“ Rieder ist sogar noch nach Val di Sole angereist, „aber die Schmerzen waren so groß, dass wir sofort operieren mussten“, erzählt die 30-Jährige. „Es war ein starker Bluterguss mit vielen verletzten Gefäßen, sodass der Oberschenkel immer vollgelaufen ist.“
Nach dem „Loch im Knie“ 2017 und dem Schlüsselbeinbruch 2018 hatte die Sonthoferin einmal mehr in ihrer Laufbahn das schwerste Los gezogen: jenes, das zum Zusehen verdammt. „Ich wollte bestätigen, was ich zum Anfang des Jahres geleistet habe. Es war nicht leicht zu verstehen, warum ich da hinten rumgefahren bin“, gesteht Rieder. „Aber das hat mir auch einen Motivationsschub gegeben – ich habe erkannt, warum ich diesen Sport so liebe.“ Nur 17 Tage nach der Operation feierte Rieder ihr Comeback, wurde Vierte beim Swiss-Cup und läutete ihren „goldenen September“ ein: Deutsche Vizemeisterin im Marathon in der Eiffel über 100 Kilometer, Sieg beim Bundesliga-Rennen in Freudenstadt im Shorttrack und ein perfekter Saisonabschluss beim Bundesliga-Finale mit Rang fünf im Cross Country und dem dritten Rang in der Gesamtwertung.
Ein Jahresabschluss, der die fünffache deutsche Meisterin zuversichtlich macht für 2020 – und das große Ziel von Olympia. Denn mit einem dreitägigen Etappenrennen in Südafrika beginnt schon Ende Oktober die Vorbereitung auf die neue Saison. „Ich bin gut aus dem Jahr gekommen. Ich habe eine Narbe mehr, aber ich bin gesund“, sagt Rieder. „Ich werde alles dafür tun, dass 2020 gut wird.“
Zweimal in den Top 15 oder einmal unter den besten Acht im Cross Country lautet die Norm für die Qualifikation für Olympia – bis Ende Mai hat sie dafür Zeit. „Das Ziel ist immer präsent und greifbar. Aber es ist mein Leben mit diesen Höhen und Tiefen – wenn es klappt, wäre es phänomenal“, sagt Nadine Rieder. Schon in den ersten Tagen des neuen Jahres hat sie die Gelegenheit, sich ein gutes Gefühl zu holen, wenn sie in Südafrika erste Rennen fahren wird. Ein gutes Pflaster ist es allemal. Und es wäre ein perfektes Timing im olympischen Jahr.