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„Fußball als Konsumphänomen der Wohlstandsgesellschaft“ - Gerd Müller als Synonym

Geschichte

„Fußball als Konsumphänomen der Wohlstandsgesellschaft“ - Gerd Müller als Synonym

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    Ibrox-Park in Glasgow: Markwart Herzog – mit Sohn Anselm – begleitet Fußball nicht nur kritisch, er besucht auch die Orte des Geschehens.
    Ibrox-Park in Glasgow: Markwart Herzog – mit Sohn Anselm – begleitet Fußball nicht nur kritisch, er besucht auch die Orte des Geschehens. Foto: Herzog

    Die 1970er Jahre stehen nicht nur für den Aufstieg des FC Bayern München, sondern auch für den „heraufziehenden Fußballkapitalismus“, erklärt Dr. Markwart Herzog, Leiter der Schwabenakademie Irsee. Während viele Fußballinteressierte aus der Region den Rekordtorschützen in höchsten Tönen loben, bemerkt der Sporthistoriker, dass Gerd Müller gleichsam ein Kind seiner Zeit gewesen sei.

    „Müller steht nach dem Aufstieg der Bayern in die Bundesliga 1965 gemeinsam mit Maier und Beckenbauer für eine neue Generation von Spielern, die wussten, was sie wert waren, die deshalb maximale Gehaltsforderungen stellten. Mit Prämien für Meisterschaften und Pokalsiege in einem System stark leistungsbezogener Bezahlung siegte sich der FC Bayern gleichsam fast zu Tode – er operierte bis in die 1970er Jahre ständig am Rand des Bankrotts. Wie sollte der Verein das finanzieren? Heute selbstverständliche Einnahmen von Sponsoren, Fernsehgeldern, Fanartikelverkauf und Werbung – diese Vermarktung stand in Deutschland damals erst in den Anfängen. Deshalb mussten die Bayern zu Müllers Zeiten abenteuerlich viele Spiele absolvieren, um Einnahmen zu erzielen, bisweilen mehr als 100 Spiele pro Saison, bei über 40 Freundschaftsspielen mit Turnieren und Tourneen. Gerd Müller: ,Man kommt ja nur noch nach Hause, um frische Wäsche abzuholen.’

    Selbstvermarktung der Spieler

    Deshalb pflegten die Bayern ihre viel kritisierte, aufreizend überhebliche und rationelle Spielweise – Spielintelligenz und -ökonomie lösten den Malocherfußball des Ruhrgebiets ab. Müller steht für einen Spielertyp, der in der Unterhaltungsbranche, im Showbusiness, im internationalen Jet Set angekommen war. Finanzieller Reichtum, lange Haare, schnelle Autos, schöne Frauen, Müller und Co erfüllten die Wunschbilder ihrer Fans. Das Streben nach Geld und Geltung, nach Status, Gewinn und Genuss stand jetzt ganz weit vor jener Kameradschaft des ,11 Freunde sollt Ihr sein’ oder der Ehre des Vereins oder der Nation, die für Fritz Walter und Uwe Seeler noch so wichtig waren. Der von Müller und Co gepflegte Hang zum Materiellen zeigte sich schlaglichtartig während der WM 1974 im ,Prämienschacher von Malente’, bei dem die Nationalmannschaft mit sechs Bayern-Spielern den DFB finanziell über den Tisch zog. Spitzenspieler verstanden sich glänzend darauf, ihre Popularität zu Geld machen.

    Fans und Medien als Reflektoren

    Müller als Repräsentant eines eigenen Unternehmertyps befriedigte unterschiedliche Interessen, Bedürfnisse und Sehnsüchte: Die Medien nutzten ihn als Stoff für ihre Berichterstattung, die Fans brauchten ihn als Identifikationsfigur. Mit Müller und dem FC Bayern war der Fußball als Konsumphänomen in der Freizeit- und Wohlstandsgesellschaft der Moderne angekommen.

    Autogrammstunden warfen viel Geld ab, ebenso Werbung für Müller Milch. Der geschäftstüchtige Müller vermarktete sogar seine Hochzeitsfeier für bares Geld in der Boulevardpresse. Eine neue Generation von Journalisten brachte die Spieler den Fans ganz nah durch personalisierte Berichterstattung (Home-Stories), auch die Ehefrauen rückten in den Fokus.

    Der Aufstieg der Bayern bedeutet das Ende der Löwen

    Als die Bayern in Saison 1964/65 in die Bundesliga aufstiegen, war der TSV München von 1860 nicht nur der führende Fußballverein in München und Bayern, sondern deutschlandweit die Nummer eins – 1964 DFB-Pokal-Sieg, 1965 Finale des Europapokals der Pokalsieger, 1966 deutscher Fußballmeister, 1967 Vizemeister. Und dann kam der FC Bayern, der mit den Müller-Toren die Sechziger letztlich in die Bedeutungslosigkeit geschossen hat.

    Die Sechziger kauften damals teure Spieler und verschuldeten sich enorm, die Bayern unter Trainer Zlatko ,Tschik’ Cajkovski und Präsident Wilhelm Neudecker setzten stattdessen auf junge, vor allem auf bayerische Spieler die mit begeisterndem Offensivfußball die Machtverhältnisse im deutschen und schließlich auch im europäischen Fußball grundlegend veränderten. Wendepunkt war die Bundesligasaison 1968/69: Die Bayern gewannen das Double, die erste deutsche Meisterschaft (Torschützenkönig: Müller 30 Treffer) und den DFB-Pokal, für die Sechziger begann eine Achterbahnfahrt mit Absturz in den Amateurbereich, während die Bayern mit den Müller-Toren den europäischen Fußball eroberten.“

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