André findet seine Uhr nicht mehr. Der Vater von zwei Töchtern, achtzig Jahre alt und verwitwet, verdächtigt eine Frau des Diebstahls, die ständig in seiner Wohnung ist, und geht mit der Gardinenstange auf sie los. Als seine Tochter Anne ihn zur Rede stellt, erinnert er sich nicht mehr so recht. Sie muss erneut eine in Tränen aufgelöste Pflegehilfe ersetzen.
André ist dement und versteht nicht, warum man ihm dauernd unbekannte Menschen aufdrängt, die sich um ihn kümmern. Wo er doch gar keine Hilfe braucht, wie er meint. Der französische Autor Florian Zeller lässt in seinem Theaterstück „Vater“ die Zuschauer daran teilhaben, wie sich bei Demenzkranken Gedächtnis, Erinnerung und Zusammenhänge allmählich auflösen. Seine Drehbuch-Adaptation für den Film „The Father“ sowie dessen Hauptdarsteller Anthony Hopkins wurden 2021 mit einem Oscar ausgezeichnet.
Zeller ist ein Stück gelungen, das die Verwirrung und Orientierungslosigkeit eines Betroffenen unmittelbar erlebbar macht. André Stuchlik setzt es im großen Haus des Landestheaters Schwaben in Memmingen unter der Regie von Jörg Gade schnörkellos und ergreifend um.
Schauspieler André Stuchlik überzeugt als Protagonist in "Vater"
Zunächst irritieren den alten Mann verändert angeordnete Möbel, später erkennt er Pierre, den Lebenspartner seiner Tochter Anne nicht. Als sie ihren Vater bei sich aufnimmt und die neue, hübsche Pflegerin Laura (Flurina Carla Schlegel) ihn an seine Tochter Elise erinnert, blüht er noch einmal auf. André entfaltet seinen früheren Charme. Allerdings fühlt er sich zunehmend verunsichert und bedroht. Erst spät kommt er darauf, dass mit ihm etwas nicht stimmt: „Als hätte ich Löcher. Im Gedächtnis“, sagt er.

André Stuchlik spielt den um Würde und Klarheit ringenden Vater fulminant und mit großer Präsenz. Gemeinsam mit der ebenso eindringlich agierenden Mirjam Smejkal als Tochter trägt er das Stück, das auch viel Komik bereithält.
Die Geschichte von André erzählt Autor Florian Zeller jedoch nicht chronologisch-linear. Raum und Zeit verschieben sich ineinander. Mit der doppelten Besetzung von Anne und Pierre durch eine „Frau“ (Josephine Bönsch) und einen „Mann“ (Tom Christopher Büning) setzt uns der Autor dem Schock und der Befremdlichkeit unmittelbar aus, wenn André vertraute Personen nicht mehr wiedererkennt.
Es bleibt für den Zuschauer schwer einzuordnen, was tatsächlich wahr ist und was nicht. Gerade dadurch ist er dem dementen André sehr nah und kann erleben, wie es sich anfühlt, wenn sich Kausalität, Kommunikation und Kontext verlieren.
Drehbare Holzwände im Memminger Theater lassen die Handlungsorte verschwimmen

Diese kaum bemerkbare Auflösung unterstützt kongenial das elegante Bühnenbild von Inés Díaz Naufal. Eine Rückwand mit drehbaren Holzvertäfelungen, die auch als Türen fungieren, lassen Andrés Wohnung und die von Anne ineinanderfließen. In die Drehtafeln eingebaute Lichtleisten tauchen die Bühne bei den zahlreichen Szenenübergängen in eine traumwandlerische Atmosphäre, die durch Eric Saties Klavierstücke „Gymnopédie“ noch verstärkt wird. So spüren die Zuschauenden konsequent den „Honig im Kopf“, wie der gleichnamige Spielfilm von Til Schweiger das Gefühl von Demenz beschreibt.
Mit herausfordernder Langsamkeit beschreibt das Stück den allmählichen Verfall von André, der zum Schluss nicht mehr auf einfachste Worte kommt und schließlich auf einer Krankenstation in den Armen einer Schwester zum Kind degeneriert.
Publikum im Memminger Theater spendet für "Vater" lange Applaus
Nach anfänglicher Zurückhaltung bekommt André Stuchlik starken Applaus mit Jubel und Bravos. Zwar waren die Reihen im großen Haus bei der Premiere nur halb gefüllt. Das Bedrückende des Themas mag einige von einem Theaterbesuch abgehalten haben. Doch der ungewöhnlich lange Applaus zeigte, wie sehr das zweieinhalbstündige Stück und die schauspielerische Leistung berühren und beeindrucken.
„Vater“ ist im Landestheater Schwaben in Memmingen erneut am 12., 20. und 22. Juni (jeweils um 20 Uhr) zu sehen.
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