Gerd Kaluzinski kann noch nicht so richtig fassen, was passiert ist. Es ist ein sonniger Nachmittag, der Lindauer sitzt auf einer Bank am Bodenseeufer. Auch die Bänke um ihn herum sind besetzt, die meisten mit Paaren. Der Platz neben Gerd Kaluzinski ist leer. Er weiß nicht, wann er seine Lebensgefährtin wiedersehen wird. Dabei lebt sie ganz in der Nähe.
Inja Schneider ist Österreicherin. Sie wohnt in Wolfurt bei Bregenz. Von Gerd Kaluzinskis Wohnung ist der Ort etwa 15 Kilometer entfernt. Eine Viertelstunde mit dem Auto, meistens nimmt er aber das Fahrrad. „Dann bin ich in einer halben Stunde bei ihr“, sagt er – und stockt. „Jetzt geht das einfach nicht mehr.“ Wahrscheinlich Tausende Male hat der 56-Jährige die Grenze zwischen Deutschland und Österreich in den vergangenen Jahren passiert. Gedankenlos, denn Bregenz bedeutet für ihn genauso Heimat wie Lindau. „Und jetzt, plötzlich, ist diese Grenze unüberwindbar.“
Kaluzinski und seine Partnerin haben derzeit nur übers Handy Kontakt. „Es gibt Tage, da geht es mir richtig mies“, sagt die 55-jährige Inja Schneider. Um die Ausbreitung des Coronavirus einzudämmen, haben sowohl Deutschland als auch Österreich strenge Grenzkontrollen eingeführt. Inja Schneider hat nun keine Chance mehr, nach Deutschland einzureisen. „Ausnahmen gelten nur für Personen mit einem deutschen Aufenthaltstitel, Personen mit Wohnsitz in Deutschland, Berufspendler und Personen, die triftige Gründe für die Einreise vorweisen”, sagt Thomas Borowik, Sprecher der Bundespolizei in München.
Viele Paare traf die Entscheidung der Regierungen unvorbereitet. Dass die Grenzen tatsächlich schließen würden, hielt Ute Rüger zunächst nur für ein Gerücht. „Wir konnten es gar nicht realisieren”, erzählt die Lindauerin. Die 58-Jährige ist seit vier Jahren mit einem Mann zusammen, der in St. Gallen in der Schweiz lebt. Weil beide Kinder aus früheren Beziehungen haben, hatten sie beschlossen, nicht zusammenzuziehen. „Das rächt sich jetzt.“ Normalerweise sieht Ute Rüger ihren Partner jedes Wochenende, meistens fährt sie eine gute Stunde mit dem Zug zu ihm. „Aber auch der Zugverkehr war ja gleich eingestellt. Meine Kolleginnen sagen jetzt immer, sie bauen mir ein Floß, damit ich über den Bodensee paddeln kann“, sagt sie und lacht. Doch eigentlich ist ihr gar nicht zum Lachen zumute. Sie macht sich große Sorgen. Denn ihr Lebensgefährte ist krank. Echte Nähe fehle ihnen jetzt beiden.
Auch Sylvia Roth war „überhaupt nicht darauf gefasst, dass das mit den Grenzschließungen so schnell geht“. Ihr Freund lebt zwischen Zürich und Basel in der Schweiz. „Wir haben schnell gemerkt: Jetzt gibt es keinen Weg mehr zueinander.“ Ihre Sehnsucht wachse von Tag zu Tag. Sylvia Roth ist frisch verliebt, ihr Partner und sie sind erst seit ein paar Wochen zusammen.
Der Lindauer Psychiater Christian Peter Dogs hat schon Tausende Paare therapiert. Er rät den Paaren, die Trennung als Chance zu sehen. „Vermissen ist ein Parameter für die Intensität der Liebe und ein schönes Gefühl, auch wenn es wehtut“, sagt er. Worüber sonst mit Leidenschaft gestritten werde, relativiere sich in solch neuen Situationen plötzlich. „Die Zeit der Werbung kann neu beginnen, und wir spüren uns wieder. Das Begehren, die Traurigkeit, aber auch die Angst, den anderen zu verlieren.“
Nicht einsam, sondern allein
Um trotz räumlicher Distanz emotionale Nähe herzustellen, braucht es laut dem Psychiater Strategien. Viel Kommunikation über die Medien sei eine. Man könne die Gelegenheit aber auch nutzen, um dem Partner mal wieder – ganz analog – einen Liebesbrief zu schreiben. Wer die Trennung als Chance begreife, für den verliere das Alleinsein seinen Schrecken. „Sie sind nicht einsam, sie sind allein. Diesen Unterschied zu begreifen, bedeutet viel“, sagt Dogs.
Dass seine Lebensgefährtin und er während der Trennung fest zusammenhalten werden, steht für Gerd Kaluzinski außer Frage. „Aber die Ungewissheit darüber, wann wir uns wiedersehen werden, das zehrt an den Nerven“, sagt der Lindauer.