Sie kann das Leben wieder genießen. Rennradeln, Wandern, raus in die Berge – all das ist wieder machbar. „Ja, es geht mir soweit ganz gut“, sagt Gianina Ernst. „Das war lange nicht selbstverständlich. Aber ich bin glücklich, dass ich heute rein körperlich keine Schmerzen mehr habe.“ Diese verspürt die 22-jährige Deutsch-Schweizerin in den kommenden Tagen, wenn, dann emotional. Auf der Couch. Zuhause in Winterthur.
Während ihre ehemaligen Kolleginnen des deutschen Skisprung-Nationalteams am Freitag bei der Nordischen Ski-WM 2021 in Oberstdorfum Medaillen springen. „Es wird sicher nicht ganz leicht, aber ich quäle mich nicht vor dem Fernseher“, sagt Ernst, die im vergangenen November im Alter von nur 21 Jahren zurückgetreten war. „Ich kann mit gutem Gefühl den Kollegen die Daumen drücken. Ich habe meinen Frieden gemacht.“
Gianina Ernst hat den Frieden mit dem Sport gemacht
Ihren Frieden mit ihrer Laufbahn als Skispringerin, die viel zu früh endete. Und mit ihrer Leidenszeit, die viel zu lange dauerte. Am 1. November 2019 setzte Gianina Ernst zu ihrer bis heute letzten Landung an. Bei einem Nationalmannschafts-Lehrgang in Garmisch-Partenkirchen kam die Athletin vom Skiclub Oberstdorf „gar nicht so ungewöhnlich“ auf dem Schnee auf – ihr Kreuzband hat es dennoch nicht ausgehalten. Das zweite Mal innerhalb von zehneinhalb Monaten riss das Band im linken Knie.
Für Ernst setzte sich die schmerzliche Tortur fort. Bereits am 14. Dezember 2018 hatte sie sich das Knie beim Continental-Cup im norwegischen Notodden schwer verletzt – Ernst verpasste im Anschluss die gesamte Saison 2018/2019. Nur drei Wochen nach ihrem Comeback kam der besagte Rückschlag. Es sollte der letzte sein.
Ex-Skispringerin Gianina Ernst: „Habe das Vertrauen verloren“
„Der erste Kreuzbandriss war nicht so schwierig für mich. Das konnte ich schnell hinnehmen, weil ich mir gesagt habe, ich mache etwas Gutes daraus“, erzählt Ernst, die in der Folgezeit ihr Abitur nachgeholt hat. „Aber der zweite war schon brutal, hat mich sehr geschwächt. Ich habe das Vertrauen in mein Knie verloren und war sehr irritiert darüber, was ich meinem Körper zutrauen kann.“
Und so entschied sich die ehemalige Oberstdorfer Internatsschülerin, die mit nur 14 Jahren bei ihrem Weltcup-Debüt im norwegischen Lillehammer 2013 auf Anhieb Rang zwei und damit ihr einziges Weltcup-Podest erreicht hatte, für den Rücktritt im Herbst. „Es ist für mich an der Zeit, Abschied zu nehmen. Aufgrund meiner doch langen Verletzungsgeschichte ist es mir nicht mehr möglich, auf die Schanze zurückzukehren“, schrieb Ernst im Herbst bei Instagram. Nach der zweiten Blessur hatte sie nie wieder in die Spur gefunden.
Bachelor-Studium in Zürich
Zügig allerdings hat die gebürtige Winterthurerin ihren Fokus umgelegt – auf eine neue Herausforderung, auf neue Lebensinhalte. War die 1,56 Meter große Athletin bei der Olympia-Premiere der Skispringerinnen 2014 in Sotschi noch als 15-Jährige jüngste Athletin, jagt sie nun nach dem Bachelor-Titel. Seit dem vergangenen Jahr studiert Ernst Psychologie in Zürich.
Und auch wenn das Meiste aus Pandemie-Gründen bisher online abläuft, glaubt die ehemalige DSV-Athletin, ihre neue Erfüllung gefunden zu haben. „Das ist nun meine Herausforderung, ich kann mich nicht mit durchschnittlichen Noten zufriedengeben. Ebenso wenig wie früher mit durchschnittlichen Leistungen“, sagt Ernst. „Denn im Sommer 2020 habe ich mich durchaus etwas verloren gefühlt. Mein Ehrgeiz hing in der Luft, ich habe nach einer Aufgabe gelechzt. Und sie gefunden.“
Einmal im Leben noch springen
So fällt es der 22-Jährigen auch zunehmend leichter, sich in ihrem jungen Alter als „zurückgetretene Leistungssportlerin“ zu bezeichnen. Noch heute bewältigt sie drei mal wöchentlich die Reha in Zwei-Stunden-Einheiten. Eines Tages, das steht fest, wolle sie noch einmal von einer Schanze springen.
„Ich habe das Gefühl, nur dann kann ich endgültig abschließen. Aber grundsätzlich geht es mir heute gut mit dieser Entscheidung. Auch wenn es noch Tage gibt, an denen ich ins Grübeln komme, ob es die richtige Entscheidung war, oder ob ich es noch einmal versuchen sollte“, sagt die 22-Jährige.
In diesen Tagen dürfte dieses Gefühl während der WM in Oberstdorf wieder auftreten. „Dass ich viel vermisse, ist normal, das wird sich nie ändern. Immerhin hat mich der Sport bisher mein ganzes Leben begleitet“, sagt Gianina Ernst und ergänzt: „Das wird auch immer so bleiben. Jetzt eben auf eine andere Art.“
Den Medaillenspiegel der Nordischen Ski-WM 2021 in Oberstdorf finden Sie hier.
