Menschen, die mir nahestehen, wurden und werden ambulant und stationär gepflegt. Ich habe viele engagierte Frauen und Männer kennengelernt, die sich kompetent und liebevoll um alte und kranke Menschen kümmern. Und ich habe ein System kennengelernt, das kompliziert und unmenschlich ist.
Beispiel stationäre Einrichtung: Aufwändige Dokumentationspflichten lähmen das Personal, dabei haben weder Pflegekräfte noch Bewohner Zeit im Überfluss. Vorgaben zur Besetzung von Wohngruppen mit Fachkräften verbessern nicht die Qualität der Versorgung, sorgen aber dafür, dass immer wieder Pflegekräfte aus der Freizeit geholt werden müssen, wenn ein Kollege krank wird.
Zu wenig Zeit für den Einzelnen
Beispiel ambulante Pflege: Die Minuten, die jede Pflegerin jeden Tag nach jedem Patienten für die Dokumentation wiederkehrender Handgriffe verschwenden muss, summieren sich so sehr, dass weniger Zeit für jeden Einzelnen da ist. Hektik tut alten Menschen aber ebenso wenig gut wie deren Angehörigen und den Pflegenden.
Vorgaben, wie lange eine Tätigkeit, beispielsweise das Waschen, dauern darf, lassen außer Acht, dass Menschen nicht nur Körper sind, sondern fühlen und handeln. Listen und Häkchen sind der untaugliche Versuch, einen unplanbaren Bereich abstrakt zu machen.
Seit Jahren begleite ich Menschen, die Pflege benötigen. Es ging um Kurzzeitpflege, dauerhafte Aufenthalte, um geriatrische Versorgung nach Operationen, ambulante Versorgung. Ich habe mit medizinischen Diensten von gesetzlichen und privaten Pflege- und Krankenkassen um Pflegegrade, Pflegestufen, Gutachten und Vieles mehr gerungen und dabei hilfreiche Menschen ebenso kennengelernt wie emotionale und fachliche Analphabeten.
Keiner hat den kompletten Überblick
Tagelang habe ich auf Pflegebett, Toilettensitz und Rollstuhl gewartet, die im Nachbarort bei einem Sanitätshaus verfügbar gewesen wären, aber 300 Kilometer weit herangekarrt werden mussten, weil die Pflegekasse einen Vertrag mit einem anderen Dienstleister hatte. Ich habe mich mit rechtlichen Vorgaben zu Verhinderungspflege, Krankentransporten, Entlastungsbeträgen, Sachleistungsbeträgen, Alltagshilfen und Hauswirtschaftshilfen beschäftigt. Ich habe nervtötende Stunden in den Warteschleifen diverser Kassen verbracht, doch ich habe niemanden getroffen, der oder die den kompletten Überblick hatte und aus eigenem Antrieb erklärte, was Pflegebedürftigen und deren Angehörigen per Gesetz (!) zusteht.
Seit 20 Jahren schreibe ich über den Pflegenotstand, über Proteste, Debatten, Arbeitsgruppen, Runde Tische. Vieles ist in dieser Zeit komplizierter geworden, ineffizient, abweisend, teuer. Ergebnis: Menschen, die den Wohlstand unseres Landes erarbeitet haben, verstehen nicht, wer zur Hilfe verpflichtet ist, wenn sie diese brauchen. Und: Viele müssen heute, wenn sie überhaupt noch gepflegt werden, Sozialhilfe beantragen. Das ist beschämend.
Reinen Tisch machen
Wer daran wirklich etwas ändern will, macht nicht noch einen Runden Tisch, sondern endlich einmal reinen Tisch: Das verwirrende Geflecht der Pflege muss radikal entwirrt und vereinfacht werden. Wir haben viel zu viele Verwalter in diesem komplizierten System, das sich selbst genügt als Daseinsberechtigung. Bürokratie ersetzt aber keine Pflege und Regulierung ersetzt keine Zuwendung. hagemeier@azv.de
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