Pilgerinnen und Pilger auf einem der beiden Jakobswege im Allgäu können sich an verschiedenen Etappenorten einen Stempel in ihren Pilgerpass eintragen. Unser Foto entstand in der Kapelle Maria Heimsuchung auf dem Mariaberg in Kempten.
Bild: Ralf Lienert
Pilgerinnen und Pilger auf einem der beiden Jakobswege im Allgäu können sich an verschiedenen Etappenorten einen Stempel in ihren Pilgerpass eintragen. Unser Foto entstand in der Kapelle Maria Heimsuchung auf dem Mariaberg in Kempten.
Bild: Ralf Lienert
Die Biografie von Werner Schroth lässt sich in zwei Kapitel aufteilen. In ein Leben vor der Pilgerreise. Und in das danach. Vor zehn Jahren brach der heute 73-Jährige, der aus dem Badischen stammt, zu einer mehrmonatigen Wanderung auf, die ihn auch ins Allgäu führte. Bis dato drehte sich sein irdisches Dasein vor allem um eines: sein Unternehmen. Er besaß ein Gartencenter mit 80 Mitarbeitern. „In meinem Tageplaner standen auf der rechten Seite die beruflichen Termine. Auf der linken die privaten. Der rechte war immer voll. Der linke leer“, bringt er sein damaliges Leben auf den Punkt.
Auf der Pilgerreise fand er, wonach er sich sehnte: Erfüllung. Und zwar in Scheidegg im Westallgäu. Nach einer Übernachtung im dortigen Pilgerzentrum der evangelischen Kirche zog er Monate später in die Marktgemeinde – und engagierte sich ehrenamtlich für die Einrichtung. Seit acht Jahren ist er mittlerweile sogar Herbergsvater in der Unterkunft mit 18 Schlafplätzen. 415 Pilgerinnen und Pilger übernachteten heuer von März bis Oktober dort für 26 Euro (inklusive Frühstück). Das sind knapp 70 Prozent mehr als zu Beginn seiner Tätigkeit.
„Pilgern in Deutschland und damit auch im Allgäu wird immer beliebter. Es muss nicht gleich Spanien oder Frankreich sein“, sagt Simone Zehnpfennig von der Allgäu GmbH. Bundesweit gibt es 30 Jakobswege. „Pilgern beginnt vor der Haustür und es lässt sich beliebig ausdehnen.“ Zum Beispiel von Scheidegg weiter nach Lindau, in die Schweiz, nach Frankreich und von dort nach Spanien bis in den über 2000 Kilometer entfernten Zielort Santiago de Compostela, wo die sterblichen Überreste des Apostels Jakobs begraben sein sollen.
Der Entertainer Hape Kerkeling hatte diesen Weg mit seinem Buch „Ich bin dann mal weg“ 2006 noch bekannter gemacht. Im Allgäu gibt es neben zwei Jakobswegen auch den Crescentia-Pilgerrundweg, der über knapp 90 Kilometer von Kaufbeuren über Mindelheim und Ottobeuren zurück in die Wertachstadt führt.
Wie weit ihn seine Füße tragen, entscheidet jeder Pilger selbst. Manche laufen zehn bis 20 Kilometer pro Tag. Andere noch mehr. Auch die Dauer des Pilgerns ist höchst unterschiedlich: „Das reicht von ein paar Tagen, über ein paar Monate bis hin zu Jahren“, erzählt Schroth. Etwa 70 Prozent der Ankommenden im Scheidegger Pilgerzentrum sind Frauen. Genau wie bei den Männern startet der überwiegende Teil in der zweiten Lebenshälfte: „Die meisten sind 45 bis 65 Jahre alt. Meine älteste Pilgerin war sogar 91!“
Tiefgläubig seien nur wenige unter seinen Gästen. „In der Regel suchen Pilger einen Weg zu sich selbst, der kann spirituell werden, muss es aber nicht“, sagt Schroth, der Pilgern gerne als „Do-it-yourself-Therapie“ beschreibt. Seine Gäste empfängt er mit Humor und Herzenswärme, bekocht sie persönlich und bringt sie an einen Tisch. „Manche sind seit Tagen allein gewandert. Fast jeder trägt eine Last mit sich herum. Innerhalb von kurzer Zeit entstehen hier intensive und ehrliche Gespräche zwischen Menschen, die sich nie zuvor gesehen haben.“ So wie bei Sieglinde, 54, aus dem Großraum München und Margret, 67, aus Sindelfingen, die am Nachmittag fast zeitgleich im Pilgerzentrum eintreffen. Nach wenigen Minuten sitzen sie gemeinsam auf der Terrasse und erzählen aus ihrem Leben.
Sieglinde ist erfahrene Pilgerin und wanderte mit etwa sieben Kilo Gepäck im Rucksack schon viele hundert Kilometer. Margret ist „Pilger-Novizin“ und bricht im Ruhestand zu neuen Ufern auf. Pilgern bedeutet für sie loszulassen, den „Kopf frei zu kriegen“. Normalerweise, erzählt die frühere Lehrerin, sei sie sie eine sehr gut strukturierte Planerin. Beim Pilgern entdeckt sie die Langsamkeit und erlebt ungeplante Überraschungen. „Früher hatte ich einen Lehrplan“, sagt die Pädagogin. „Beim Pilgern genieße ich den Leerplan.“
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