Die Corona-Krise spitzt sich zu - und wirkt sich immer stärker auf den Alltag der Jüngsten aus: Feste, Partys oder Sankt-Martins-Umzüge werden abgesagt, an Schulen herrscht Maskenpflicht, ganze Klassen befinden sich in Quarantäne. Über die aktuelle Situation sprachen wir Michael Blechert (56), Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie mit Praxis in Kempten.
Bei Corona-Fällen werden einzelne Schulklassen in Quarantäne geschickt. Was kann es bei einem Kind auslösen, wenn wegen seiner Infektion die ganze Klasse oder die ganze Schule nach Hause muss?
Blechert: Das kann zu seiner erheblichen Belastung und sogar Gefährdung für das Kind werden. Zum Beispiel, wenn dem Kind Vorwürfe von Klassenkameraden oder anderen Eltern gemacht werden. Das Kind macht sich verantwortlich für weitere Erkrankte oder sogar mögliche Todesfälle. Es sucht die Schuld bei sich und konstruiert Zusammenhänge. Zum Beispiel: "Hätte ich meine Maske doch immer aufgehabt, dann müssten jetzt nicht alle darunter leiden.
Wie lässt sich Stigmatisierung verhindern?
Blechert: Schulen und Kindergärten sollten sachlich über einen Corona-Fall informieren und keine Emotionen schüren. Die Namen von erkrankten Schülern dürfen aus gutem Grund von den Institutionen nicht öffentlich gemacht werden.
Eltern und Kinder sollten sich auf keinen Fall an Spekulationen, Gerüchten oder Vorwürfen beteiligen. Das kann nicht nur für das betreffende Kind, sondern für dessen ganze Familie zu einer enormen Belastung werden. Wichtig ist dem Kind zu erklären, dass sich jeder infizieren kann, sogar der Bundesgesundheitsminister, selbst wenn er noch so achtsam ist. Es gibt keinen 100 prozentigen Schutz. Dennoch ist die Einhaltung der empfohlenen Schutzmaßnahmen sinnvoll.
Was macht die Corona-Krise – allgemein gesprochen - mit unseren Kindern? Welche Erfahrungen erleben Sie derzeit in Ihrer Praxis?
Blechert: Je länger die Krise dauert, desto größer wird die Belastung für Kinder. Der Wechsel zwischen Lockerungen und Regel-Verschärfung macht Kindern zu schaffen. Für sie ist Verlässlichkeit besonders wichtig. Die Unbeschwertheit der Kindheitstage ist mit jeder Einschränkung ein Stück weit bedroht. Kontaktverbote erschweren es, soziale Bindungen aufzubauen und zu erlernen. Sportliche oder Vereinsaktivitäten sind erheblich eingeschränkt, außerdem rücken derzeit Themen in den Mittelpunkt, die Kinder normalerweise nur am Rande beschäftigen: Krankheit, Tod, Verlust.
Damit nehmen auch Ängste zu. Ich hatte beispielsweise einen Jugendlichen in der Praxis, der einen geplanten Klinik-Aufenthalt nicht antrat, weil Angst hatte, sich dort mit dem Corona-Virus zu infizieren. Andere treten gewissermaßen die Flucht an und verbringen noch mehr Zeit auf Social Media oder an der Spielkonsole.
Ständige Warnungen und Horrorszenarien: Woran kann ich als Eltern oder Lehrer erkennen, dass ein Kind psychische Probleme wegen Corona bekommt?
Blechert: Indem Sie auf das Verhalten des Kindes achten. Neigt es zu Panik, zieht es sich zurück? Oder - was ja auch vorkommt - ignoriert es plötzlich alle Vorgaben. Wichtig ist, das Gespräch mit dem Kind über Corona zu suchen, aber das Thema auch nicht bei jedem Abendessen in den Mittelpunkt zu stellen. Wenn Erwachsene nicht in Panik verfallen, hilft das auch dem Kind. Hilfreich für die Kinder und Jugendlichen selbst können auch Online-Angebote wie z.B. die Internetseite der LMU München www.corona-und-du.info sein.

In welchem Alter leiden Kinder besonders unter der Corona-Krise?
Blechert: Jede Altersgruppe leidet unterschiedlich. Den Kindergartenkindern macht es vor allem zu schaffen, weniger natürlichen Umgang zu haben. Beispielsweise Oma und Opa nicht mehr sehen zu dürfen. Schulkinder beschäftigt die Frage, ob der Unterricht stattfinden kann oder nicht. Das kann negative Auswirkungen auf ihre Zukunft haben. Kinder aus einem bildungsferneren Umfeld, tun sich häufig schwerer, wenn der Unterricht ausfällt oder nur digital stattfindet.
Wenn Eltern im Homeoffice sind, kann das ebenfalls zu Spannungen führen. Gerade Jugendliche fühlen sich dadurch stärker kontrolliert. Ihnen setzt es auch zu, wenn sie zum Beispiel keine Schulabschlussfahrten machen konnten oder sie für ihr eigentlich jugendtypisches Partyfeiern kritisiert werden. Nicht alle verstehen, dass sie zwar solidarisch mit der älteren Generation sein sollen, aber andererseits von einigen Vertreteren der älteren Generation kaum Solidarität erfahren, wenn es um Zukunftsfragen wie den Klimaschutz, die Generationengerechtigkeit oder Jobperspektiven geht.
Wie verkraften Kinder Einschränkungen, wie beispielsweise die Maskenpflicht in der Schule? Sind sie tatsächlich „Meister der Anpassung“, wie es ein Psychologe kürzlich formulierte?
Blechert: Kurzfristig können sich Kinder in der Tat sehr gut anpassen. Sie nehmen eine Vorgabe, beispielsweise eine Einschränkung wie ein Spielplatzverbot im Lockdown, an ohne es weiter zu hinterfragen. Was das langfristig mit ihnen macht, lässt sich erst später beurteilen. Bei der Maskenpflicht ist mein Eindruck, dass Schüler sie zwar als nervig und anstregend empfinden. Dass sie sie überwiegend aber aktezptieren.
Wie stehen junge Leute unterm Strich zu den Corona-Maßnahmen?
Blechert: Dazu gibt es eine aktuelle Tui-Studie. Demnach empfinden sie 52 Prozent der befragen Jugendlichen als "angemessen". 83 Prozent gaben an, sich daran zu halten. 19 Prozent halten sie für übertrieben.
Als Jugendliche wuchsen vorangegangene Jahrgänge mit dem Gefühl auf, dass ihnen die Welt buchstäblich offen steht. Aktuell kommt jeden Tag eine neue Risikowarnung für Reisende heraus. Wie verändern diese Einschränkungen junge Leute?
Blechert: Das wird davon abhängen, wie lange dieser Zustand anhält. Es ist für junge Leute ein Verlust, wenn sie andere Kulturen und Menschen oder auch das Abnabeln von Zuhause durch eine Reise nicht kennenlernen können.
Andererseits gab es schon vor Corona die Tendenz bei jungen Leuten, speziell Fernreisen mit Blick auf den Klimaschutz zu hinterfragen. Ich glaube, dass die Corona-Krise bei jungen Leuten zwei gegensätzliche Positionen auslöst. Die einen wenden sich wegen der Corona-Krise stärker Politik, Wissenschaft oder dem Gemeinwohl zu. Eine kleinere Gruppe bricht vielleicht aus und verlässt sich erstmal nicht mehr auf Vorschriften und die Meinung von Experten.
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