Fast alles war anders, aber die Emotionen waren die gleichen. Wie schon 2019 rollte die Kreisstadt ihrer Weltmeisterin den roten Teppich aus. Wie 2019 strahlte Selina Jörg überglücklich. Wie vor zwei Jahren begrüßte die Stadt Sonthofen am Montagabend ihre Ausnahme-Snowboarderin mit einem warmen Empfang im Rathaus. „Ich bin dankbar für diese Momente, dankbar für die schönen Worte“, sagte die 33-Jährige. „Das ist nicht selbstverständlich in dieser Zeit, aber umso mehr freut es mich, dass besondere Menschen hier sind.“
Freilich fiel die Zeremonie wegen der Corona-Pandemie weitaus bescheidener aus als noch vor zwei Jahren nach ihrem ersten WM-Coup, als die Athletin vom Skiclub Sonthofen in Park City (Utah) furios zur Goldmedaille gerast war. Damals, Ende Februar 2019, rollte Jörg mit ihrem Freund Martin Weiß an der Seite in einer Kutsche von den Skiclub-Kids umzingelt märchenhaft durch die Fußgängerzone – am Ende der Triumphfahrt hatten 350 Fans und Freunde, Jugendtrainer und Weggefährten die Sonthoferin am Rathausplatz begrüßt. Im Jahr der Pandemie fiel der Rahmen ungleich bescheidener aus.
Selina Jörgs Eltern und Freund Martin sind dabei
Ganz unabhängig davon – das Wichtigste hatte Selina Jörg auch heuer dabei: Ihre Eltern Inge und Willi Jörg, ihren Freund Martin und ihre Goldmedaille aus dem Parallel-Riesenslalom im slowenischen Rogla, sowie Bronze, zu dem sie nur 24 Stunden später im Parallelslalom gerast war. „Es war lange nicht greifbar, was ich da in diesem Jahr wieder geschafft habe. Die ganze Geschichte wäre auch schon ohne Medaille eine runde Sache für mich gewesen, weil ich über viele Jahre alles versucht und viel erreicht habe“, sagte Jörg mit Blick auf die jüngste Weltmeisterschaft in Rogla. „Aber, dass alles so endet, habe ich mir nie erträumt“, ergänzte die Sonthoferin, die bekanntlich nur wenige Tage nach ihrem WM-Triumph in Rogla ihr Karriereende verkündet hatte.

Und auch wenn der Empfang in der Heimat für die Weltmeisterin vergleichsweise beschaulich verlief: Auftritte im aktuellen Sportstudio am vergangenen Samstag und im Blickpunkt Sport am Sonntag zuvor – seit Rogla durchläuft die Sonthoferin auf der Zielgeraden ihrer Karriere noch einmal einen medialen Vollsprint. „Die Anfragen haben sich nach der WM, vor allem aber nach der Verkündung meines Entschlusses zum Rücktritt, ziemlich gehäuft. Die Ereignisse überschlagen sich in diesen Tagen und mein Handy ist fast explodiert“, sagte Jörg. „Aber es ist gut so, weil es ein schönes Zeichen der Wertschätzung meiner Karriere ist.“ So auch am Abend des Empfangs, als eine Live-Schalte in die Abendnachrichten eines Fernsehsenders, den offiziellen Teil abrundete.
Die Doppel-Weltmeisterin trug sich das fünfte Mal in ihrer Laufbahn ins Goldene Buch Sonthofens ein. Von der Stadt und Bürgermeister Christian Wilhelm sowie vom heimischen Skiclub gab es Präsente. „Wir sind unheimlich stolz auf Dich. Wir haben in der Heimat immer mitgefiebert, so wie wir es über die Jahre auch immer gemacht haben“, sagte der Skiclub-Vorsitzende Manuel Wernick. „Du bist ein tolles Aushängeschild für unseren Verein, für die Stadt und für die gesamte Region. Wir danken Dir für alles, was Du für uns getan hast.“
Bürgermeister Wilhelm: „Ein Vorbild – in jeder Hinsicht“
Bürgermeister Christian Wilhelm lobte Jörg für ihr Engagement – sie sei ein „Vorbild für die Jugend – und das in jeder Hinsicht“. Die 33-Jährige hatte während des ersten Lockdowns mit dem Lastenrad Verpflegungspakete der Caritas an Senioren im Oberallgäu verteilt und hielt die Kinder des Skiclubs Sonthofen im zweiten Lockdown mit einem Home-Trainingsvideo fit.
„Du hast in den vergangenen Jahren außerordentliche Erfolge gefeiert und für das Werk Deiner Karriere gratuliert Dir die gesamte Stadt Sonthofen herzlich“, sagte Wilhelm. „Wenn die Kinder sagen, sie möchten so werden wie Selina – tja, daran erkennt man die echten Vorbilder.“

Und so wird Selina Jörg die Weltcup-Bühne einmal noch, und das als erfolgreichste deutsche Snowboarderin, betreten. Am kommenden Wochenende bestreitet die 33-Jährige beim Saisonfinale am Götschen in Berchtesgaden, wo sie einst als Teenagerin ihre außergewöhnliche Karriere startete, das letzte Rennen. „Ich hätte mir damals, als ich mit 14 Jahren nach Berchtesgaden gezogen bin, nie vorgestellt, dass ich eines Tages hierhin als Doppel-Weltmeisterin zurückkomme“, sagte Jörg, die sich nach dem Ende der Saison bei der Bundeswehr neuorientieren und im Sommer im Fahrradladen ihres Freundes in Immenstadt den E-Bike-Verleih übernehmen möchte, zum Abschluss des Empfangs. „Das Ende kommt zum richtigen Zeitpunkt, weil ich dankbar bin für alles, was ich erleben durfte. Der Leistungssport war die beste Schule des Lebens.“