Der Bezahldienstleister Wirecard galt als ein Aushängeschild deutscher Hochtechnologie - doch aus dem Börsenstar ist ein globaler Kriminalfall mit begleitendem Milliardencrash geworden. Dass Dax-Konzerne in den Abgrund stürzen, hat es schon gegeben. Doch die Geschwindigkeit, in der Wirecard innerhalb einer Woche vom Eingeständnis mutmaßlicher Manipulationen bis zur Insolvenzankündigung voranschritt, ist rekordverdächtig. Die Aufarbeitung wird Jahre dauern.
Was ist bei Wirecard passiert?
Wirecard ist ein Bezahldienstleister, der bargeldlose Zahlungen an Ladenkassen und im Internet abwickelt. Das Unternehmen sitzt an der Schnittstelle zwischen den angeschlossenen Händlern auf der einen und Banken und Kreditkartenfirmen auf der anderen Seite. Einen Teil dieser Geschäfte im Mittleren Osten und in Südostasien hatte Wirecard Drittfirmen übertragen, die Zahlungen im Auftrag des deutschen Unternehmens abwickelten - angeblich. Denn nun hat sich herausgestellt, dass ein großer Teil dieses Drittfirmengeschäfts mutmaßlich frei erfunden war. Nach derzeitigem Stand geht es um Luftbuchungen in Höhe von 1,9 Milliarden Euro.
Warum kündigt Wirecard deswegen Insolvenz an?
Da die 1,9 Milliarden aller Wahrscheinlichkeit nach nicht existieren, stimmen ebenso wahrscheinlich die Wirecard-Bilanzen nicht. Die Jahresabschlüsse börsennotierter Unternehmen müssen geprüft und testiert werden. Bei Wirecard hat die Prüfungsgesellschaft EY das Testat für 2019 verweigert. Ohne Testat können Banken Kredite kündigen. Laut Wirecard laufen nächste Woche insgesamt 1,3 Milliarden Darlehen aus. Die Folge: drohende Zahlungsunfähigkeit.
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Wer sind die Täter im Fall Wirecard?
EY geht von umfassendem Betrug aus, an dem "mehrere Parteien rund um die Welt und in verschiedenen Institutionen mit gezielter Täuschungsabsicht" beteiligt waren - wenn es sich bewahrheitet, ein internationales kriminelles Netzwerk. Prominentester Verdächtiger ist der ehemalige Vorstandschef Markus Braun, gegen den die Münchner Staatsanwaltschaft ermittelt. Unbekannt ist, in welchem Ausmaß Braun nach Einschätzung der Ermittler involviert war - ob er seine Sorgfaltspflicht verletzte, Manipulationen wissentlich duldete, aktiver Täter war oder gar die mutmaßlichen Manipulationen steuerte. Eine Schlüsselrolle spielt ein ehemaliger Treuhänder in Singapur, der die Konten mit den mutmaßlich fingierten Drittfirmenumsätzen bis Ende 2019 betreute.
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Wer sind die Geschädigten im Fall Wirecard?
Zunächst einmal die weltweit 5800 Mitarbeiter, deren große Mehrheit aller Wahrscheinlichkeit nach von Manipulationen nichts wusste, und die nun vor einer ungewissen Zukunft stehen. Finanziell geschädigt sind in erster Linie die Banken, die Wirecard Kredite gaben, andere Unternehmen, die mit Wirecard in Geschäftsbeziehungen standen, und die Aktionäre. Banken und andere Gläubiger können ihre Forderungen im Insolvenzverfahren anmelden. Aktionäre bleiben auf ihren Kursverlusten sitzen. Doch müssen Aktionäre im Falle einer Insolvenz kein Kapital nachschießen. Der beschuldigte Vorstandschef Braun war bis vor kurzem Großaktionär und hat selbst immense Einbußen von über einer Milliarde Euro erlitten.
Wie geht es mit Wirecard weiter?
Nach der Einreichung des Insolvenzantrags wird das Münchner Amtsgericht einen vorläufigen Insolvenzverwalter bestellen. Dieser wird dann prüfen, ob das Unternehmen überlebensfähig ist, oder ob Wirecard mangels Substanz den Betrieb einstellen muss. Schätzt der Insolvenzverwalter das Unternehmen als überlebensfähig ein, ist eine Option die Suche nach Investoren, die das nötige Geld für den Weiterbetrieb zur Verfügung stellen.
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Was sind die juristischen Folgen?
Die Staatsanwaltschaft München steht vor möglicherweise jahrelangen Ermittlungen, an deren Ende ein ebenso langwieriger Strafprozess stehen könnte. Zivilrechtlich ist eine Klagewelle von Aktionären und Investoren gegen ehemalige Wirecard-Verantwortliche zu erwarten. Bereits angekündigt ist eine Klage gegen die Wirtschaftsprüfer von EY. Nicht ausgeschlossen sind auch Klagen gegen die Finanzaufsicht Bafin.
Wer hat den Wirecard-Skandal aufgedeckt?
Eine wesentliche Rolle spielte die britische Zeitung "Financial Times", die Anfang 2019 begann, über mutmaßliche Manipulationen in Singapur zu berichten. Im Oktober äußerte die Zeitung den Verdacht, dass das Drittpartnergeschäft erfunden sein könnte. Die von Wirecard selbst mit einer Sonderuntersuchung beauftragte Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG deckte wesentliche Ungereimtheiten auf und stellte im April fest, dass die Existenz gut einer Milliarde Euro nicht nachgewiesen sei. Und schließlich kam dann EY bei der Bilanzprüfung 2019 zur Einschätzung, dass es sich um kriminelle Manipulationen handelt, und gab den Hinweis an die Behörden.
Autor: Carsten Hoefer und Steffen Weyer