Wenn sich die Stalltüre auf dem Gnadenhof „Lebensfroh“ quietschend öffnet, beginnt ein Schauspiel im Grenzbereich des Möglichen. Es hat mit einer tierischen Sensation aus dem Allgäu zu tun und mit einer menschlichen Ausnahmeerscheinung aus Hessen. Und als Beobachter weiß man nicht genau, über was man mehr staunen soll.

Am besten hält man inne und genießt einen Augenblick perfekter Harmonie. Wie Deutschlands wohl bekannteste Kälber Leo, Elian, Nelli und Ronja heranstürmen und Bauern Matthias Jehn, 63, mit großen dunklen Augen umgarnen. Wie sie seine schwieligen Arbeiterhände abschlecken und er ihnen lächelnd über die Köpfe streichelt. Und wie sich die aufmerksame Mutter Mila irgendwann der Jubeltraube nähert, um ihren Nachwuchs daran zu erinnern, dass zu viel Zutrauen zum Menschen gefährlich sein könnte.
Recht hat sie, die tapfere Kuh-Lady. Unter normalen Umständen. Doch hier, auf dem von Laubwäldern umgebenen Bauernhof in Heubach nahe Fulda, gelten andere Gesetze. Für die Tiere ist er so sicher wie sonst nur die Arche Noah. Dafür bürgt Bauer Matthias Jehn.
Ein Landwirt, der – um in der biblischen Sprache zu bleiben – sich vom Saulus zum Paulus verwandelte. 40 Jahre lang mästete er Ochsen, um sie spätestens nach zwei Jahren an den Schlachter zu verkaufen.
Heute ist er Vegetarier und fühlt sich nicht mehr in der Lage, einem Tier auch nur ein Haar zu krümmen. Auf seinem großen Hof mit über 70 Fußballfeldern Weideland beherbergt er seit einem Jahr 180 Tiere auf Lebenszeit. Kühe, Bullen, Pferde, Hühner und den zutraulichen Border Collie Don. Die Tiere haben allesamt Paten, die mindestens fünf Euro im Monat spenden. Möglich macht dies der Verein „Rüsselheim“ mit Sitz in Augsburg.

„Ich bin froh, dass ich aus dem Kreislauf, der mein Leben bestimmt hat, ausgebrochen bin. Es ist eine Erleichterung“, sagt der frühere Bullentreiber, der in puncto Gutmütigkeit und Leibesfülle als hessische Ausgabe des „Bullen von Tölz“ durchgehen könnte.
Seiner Wandlung verdanken Leo, Elian, Nelli und Ronja das zweite Wunder jungen Leben. Geboren wurden sie vor zwei Monaten knapp vierhundert Kilometer weiter südlich, in Grünenbach (Westallgäu) am Rande der Alpen. Kaum hatten sie im Stall von Hansjörg Braun das Licht der Welt erblickt, wurden sie in den Medien als Rarität gefeiert. Die Chance auf eine Vierlingsgeburt bei Kühen steht bei 1:11 Millionen.
Dass die hageren Geschwister mit einem Gewicht von jeweils nur 20 Kilo die ersten Tage überlebten, machte das Glück perfekt. Auch bei Besitzer Braun und seinen Enkeln. Am liebsten hätten sie die Vierlinge behalten. Doch wie so oft in der Landwirtschaft drohte die romantische Vorstellung dem wirtschaftlichen Druck zu weichen. Die Vierlinge sind eine Kreuzung aus den Rassen Weißblauer Belgier und Deutsches Braunvieh. Eine typische Mastrasse, deren Weg früher oder später in den Schlachthof führt.
Der
wurde 2009 gegründet und hat 75 Mitglieder. Er rettet Tiere vor der Schlachtbank, sucht Paten für sie und bringt sie auf Gnadenhöfen unter.
Insgesamt 2000 Paten gibt es bei der in Augsburg ansässigen Organisation. Ab fünf Euro pro Monat kann man eine Patenschaft übernehmen.
Für die Allgäuer Vierlingskälber (zwei Färsen, zwei Bullen) werden noch Paten gesucht. Übrigens: Seit sie auf dem Hof von Bauer Matthias Jehn leben, erhielten sie neue Namen.
Umso mehr freute sich Braun über ein Angebot des Vereins Rüsselheim. Die Tierschützer boten an, die vier Kälber und deren angeschlagene Mutter zu einem handelsüblichen Preis zu kaufen – und sie auf dem Gnadenhof in Hessen zu versorgen. „Uns war wichtig, auch die Mama zu retten. Sie ist der stille Star des Vierlings-Wunders und hat unglaubliche Strapazen durchgestanden“, sagt die Vereinsvorsitzende Doris Rauh aus Allmannshofen (Landkreis Augsburg).
Die 54-Jährige sorgte mithilfe von Spendengeldern dafür, dass die malade Mila in der Tierklinik in Gessertshausen operiert wurde. Erst nach einer sechswöchigen Therapie durfte die Mutterkuh, deren Bauchmuskel gerissen war, ebenfalls die Reise nach Hessen antreten. Ihr Nachwuchs konnte das Glück kaum fassen. „Die sind gehüpft vor Freude“, sagt Bauer Jehn.
Den 35 Quadratmeter großen und mit Stroh unterlegten Familien-Laufstall regiert Mila mit natürlicher Autorität – obwohl ihre Schützlinge nicht mehr aus sie angewiesen sind. Sie haben sich längst an hochwertige Silage und Milch aus dem Automaten gewöhnt. Doch die pure Präsenz färbt beruhigend auf die Jungen ab. "Die kleinen sind am liebsten in ihrer Nähe", sagt Bauer Matthias Jehn. Er kann sich nichts schöneres mehr vorstellen, als nach getaner Arbeit beim Feierabendbier Mutter Mila und den Kälbern Leo, Elian, Nelli und Ronja beim Herumtollen zuzusehen. Nie und nimmer würde er sie an die Schlachtbank verraten.
„Wenn es den Vieren weiterhin so gut geht, werden sie mindestens 30 Jahre alt. Falls ich dann nicht mehr bin“, sagt der kinderlose Landwirt, „übernimmt mein Neffe den Hof und kümmert um die Tiere.“ Ob die Vierlingskälbern aus dem Allgäu wohl ahnen, wie viel Glück sie in ihrem Leben haben?