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"Die schlimmsten Jahre des 19. Jahrhunderts"

Hungersnot in Memmingen

"Die schlimmsten Jahre des 19. Jahrhunderts"

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    Vor 200 Jahren von der hungernden Bevölkerung sehnsüchtig erwartet: der Einzug eines Erntewagens durch das Memminger Westertor.
    Vor 200 Jahren von der hungernden Bevölkerung sehnsüchtig erwartet: der Einzug eines Erntewagens durch das Memminger Westertor. Foto: Stadtarchiv Memmingen

    „Die Jahre 1816/17 dürften für die Stadt die schlimmsten des 19. Jahrhunderts gewesen sein“, schreibt der gewiss nicht zu Übertreibungen neigende Historiker Paul Hoser in seiner „Geschichte der Stadt Memmingen“. Gemeint ist damit die unvorstellbar schlimme Hungersnot, die vor 200 Jahren über die Stadt hereinbrach.

    Nachdem Memmingen durch die kurz zuvor zu Ende gegangenen Napoleonischen Kriege ohnehin schon erschöpft war, stürzten die Hungerjahre die Stadt in eine bedrohliche Existenzkrise. Ein ungewöhnlich kaltes Frühjahr und ein nasskalter Sommer hatten damals zu „bedeutendem Misswachs“ geführt, wie der Chronist Jakob Friedrich Unold berichtet. Eine „furchtbare Theuerung“, die vor allem die sozial schwachen Schichten traf, war die unausbleibliche Folge.

    Wucherer und aufgebrachte Bevölkerung

    Aber mehr Schuld noch als die Natur, so Unold, „trug der Mensch, trug die Wucherey, welche die geringe Erndte zum Vorwand nahm, um seine aus den gesegneten Vorjahren gesammelten Vorräthe zu seinem Fluch und zum Verderben des Nebenmenschen mit geiziger Hand hinzuhalten, und zu furchtbaren Preisen zu steigern“. Gleich am ersten Schrannentag schlug das Scheffel Getreide um zwölf Gulden auf – trotzdem wurde alles bis zum letzten Korn verkauft. In Erwartung der weiteren Verknappung hatten auswärtige Händler (von Unold „Wucherer“ genannt) fast das gesamte Angebot an sich gebracht.

    Die aufgebrachte Bevölkerung besetzte daraufhin die Stadttore, verfolgte einen Schweizer Händler, der Getreide um jeden Preis aufgekauft hatte, bis zum Hühnerberg und brachte drei volle Wagen in die Stadt zurück. Die Folgen ließen nicht lange auf sich warten: Die bayerische Obrigkeit ließ Militär aufmarschieren, und den Einwohnern wurde gedroht, die Schranne zu verlieren, sollte sich Ähnliches wiederholen.

    Manche Unbemittelte nahmen ihre Zuflucht zu ganz ungewöhnlichen Nahrungsmitteln, kochten Blut, sogenannte Süßlinge, Brennnesseln und das Abkraut von Gartengewächsen, häufig zum Schaden ihrer Gesundheit.Chronist Jakob Friedrich Unold

    An der heraufziehenden Hungersnot änderte dies freilich nichts. Handel und Gewerbe lagen bald völlig darnieder, jeder kämpfte nur um den Erhalt der unentbehrlichsten Lebensbedürfnisse. Die Not wurde immer größer und drückender und „manche Unbemittelte nahmen ihre Zuflucht zu ganz ungewöhnlichen Nahrungsmitteln, kochten Blut, sogenannte Süßlinge, Brennnesseln und das Abkraut von Gartengewächsen, häufig zum Schaden ihrer Gesundheit“ (Unold).

    München verbietet Armensteuer

    Dass die Krise derartige Ausmaße annehmen konnte, lag nicht zuletzt am Königreich Bayern, das sich wenige Jahre zuvor die ehemals Freie Reichsstadt im Zuge der Mediatisierung einverleibt hatte. Trotz mehrmaliger Vorstöße hatte München nämlich der Stadt beharrlich die Erhebung einer Armensteuer verboten, was zuvor gang und gäbe war.

    Erst im Januar 1817 übertrug der Staat einen Großteil der Aufgaben des Armenwesens wieder an die Stadt zurück. In der Zwischenzeit hatten begüterte Memminger Bürger – so gut es ging – die schlimmste Not durch private Spendenaktionen zu lindern gesucht. Mancher wurde dadurch vor dem drohenden Hungertod gerettet. Über die Zahlen der dennoch verhungerten Bewohner Memmingens gibt es allerdings keine amtlichen Angaben.

    Die Wucht des Vulkans Tambora

    Das Jahr 1817 brachte dann durch besseres Wetter endlich wieder gute Erträge, und die Getreidepreise fielen. Am 1. August konnten die Memminger den ersten festlich geschmückten Erntewagen durch das Westertor rollen sehen und mit einem großen Fest begrüßen.

    Heute weiß man woher das katastrophale Wetter stammte, das 1816 in vielen Ländern herrschte: Im Jahr zuvor, im April 1815, war im heutigen Indonesien der Vulkan Tambora mit solcher Wucht ausgebrochen, dass seine Aschewolken sich über die ganze Welt verbreiteten und vor allem in Europa den Sommer in einen milden Winter verwandelten.

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