„Ricki ist ein Wildtier und gehört in den Wald“, sagt Raimund Veser. Das war dem 53-Jährigen bereits klar, als vergangenes Jahr an einem Sonntagabend sein Telefon klingelte und eine Jägerin ihn fragte, ob er das Kitz groß ziehen will. Seitdem drehte sich alles nur noch um das kleine Bündel, das in einem Korb in dem Gestratzer Häuschen nahe dem Waldrand ankam. Veser: „Ein Reh groß ziehen, ist ein Dauerjob.“ Das Tier brauchte rund um die Uhr Pflege. Dann hieß es, das Kitz so weit aufzupäppeln, dass es den Winter übersteht. Möglich war das nur, weil Veser und Nobis sich abwechseln konnten, ihre Arbeitsschichten so legten, dass immer einer zuhause beim Reh war.

„Manchmal tat es mir leid, wenn ich gesehen habe, wie sie da im Schnee liegt – nachts, bei minus 20 Grad“, erinnert sich Veser. Da habe er sich schon überlegt, ob er das Tier in die warme Stube holen soll. „Aber da hätte sie sich nicht wohl gefühlt. Der Organismus des Wilds ist so eingestellt, dass der Stoffwechsel bei Kälte zurückfährt und das Tier in eine Winterruhe fällt.“ Denn trotz der grazilen Beine, des zarten Fells, des staksigen Gangs: „Rehe sind härter im Nehmen als man denkt. Sie halten viel aus.“ Wenn der Gestratzer erzählt, sprudelt das Wissen über Rehe nur so aus ihm heraus. Er hätte nie gedacht, dass er jemals so viel über die scheuen Tiere lernen wird – und dass es so viele Menschen gibt, die ähnliches erlebt haben wie er.
Zehn, fünfzehn Gleichgesinnte hat er binnen eines Jahres kennengelernt. „Alle haben schon einmal ein Kitz aufgezogen. Aber meist starb es nach kurzer Zeit.“ Obwohl die Vorzeichen schlecht standen, hat Ricki überlebt. Umso schmerzlicher war es für Veser, als der Schnee schmolz, seine Freundin und er Abschied nehmen mussten. Sie öffneten ihr Gartengatter.
„Erst ist Ricki nur raus in die Wiese, hat ein wenig Gras gefressen. Und auf einmal spurtete sie los. Weg war sie“, erinnert sich der 53-Jährige. Auch das leuchtend orangefarbene Halsband, das Ricki trägt, damit Jäger sie erkennen und sie nicht schießen, war bald nicht mehr zu sehen. „Da macht man sich dann gleich einen Kopf. Passt alles? Lebt sie noch?“ Doch nur eine halbe Stunde später war die Rehgeiß wieder da.
Alle paar Tage schaute sie beim Heim ihrer Zieheltern vorbei. Die Abstände, in denen sie weg blieb, wurden immer größer – und auch die Sorgen von Raimund Veser. „Als zum ersten Mai die Jagdzeit begonnen hat, war die Angst da, dass ihr trotz Halsband was passiert.“ Beim Spazierengehen im Wald kam ihm der Gedanke, er könnte sie rufen. Die Rehgeiß kam. „Und sie war richtig ramponiert: Kratzer und Risse am Kopf, übersät mit Zecken.“ Ricki lief freiwillig mit ihrem Ziehvater heim. Dort ließ sie sich erst einmal über 40 Blutsauger entfernen. Übergangsweise lebt sie nun in Gestratz, soll aber wieder ausgewildert werden.
Auch Veser ist zu einem Zweifler geworden: Noch einmal ein Wildtier groß ziehen würde er nur, wenn er nicht mehr arbeiten müsste. „Der Kraftaufwand ist zu groß. Vor allem würde ich es mir nicht verzeihen, wenn ein Tier stirbt, weil ich nicht genügend Zeit für es hatte. Die ganze Tierliebe hilft nichts. Wer sich das antut, muss es sich vorher gut überlegen.“