Ihr Name ist auf der ganzen Welt ein Begriff: Rammstein! Keine andere deutsche Band hat je mehr Wucht entwickelt als die Rock-Superstars mit ihren über 20 Millionen verkauften Tonträgern. Im kommenden Jahr feiert Rammstein das 25-jährige Band-Jubiläum und wird nicht nur endlich wieder auf Tour gehen, sondern auch das heißersehnte neue Album rausbringen. Bei den Aufnahmen in Minsk in Weißrussland war auch ein Allgäuer dabei: Dirigent Wilhelm Keitel aus Marktoberdorf studierte Chor- und Orchesterpassagen für die neuen Songs ein. Dabei galt: strengste Geheimhaltung!
„Geigen brennen mit Gekreisch, Harfen schneiden sich ins Fleisch.“ In typischer, ebenso martialischer wie kryptischer Rammstein-Manier berichten die Berliner Rock-Superstars im Internet von ihren Chor- und Orchesteraufnahmen, die sie in Minsk für ihr nächstes, von Fans längst ersehntes Album machten. Den Taktstock schwang dabei ein Wahl-Marktoberdorfer: Wilhelm Keitel, der als ständiger Gastdirigent des weißrussischen Rundfunkchors und -orchesters arbeitet.
Keitel, der aus Schwäbisch Hall stammt, ist mit dem internationalen Kulturleben vertraut. Und füllt, wie Rammstein, Konzerthallen mit tausenden Besuchern. Der Dirigent und Produzent arbeitet immer wieder mit Popszene-Größen wie Yes, Helene Fischer oder Conchita zusammen. Das erzählt der 67-Jährige ganz locker, während er mit Sonnenbrille in einem Marktoberdorfer Café sitzt und entspannt an seinem eisgekühlten Frappé nippt. Eigentlich hat er wenig Zeit. Aktuell steht eine Opernaufführung an, bevor es mit Filmmusik-Größe Hans Zimmer und Profi-Musikern aus Minsk auf Europatour geht.
Große Geheimnistuerei
Dennoch hatte Keitel mit den „Rammsteinern“, wie er die prominente Metal-Band liebevoll nennt, viele neue, ja überraschende Erlebnisse. Das fängt mit einer Verschwiegenheitserklärung zu Rammsteins neuen Stücken an, die hohe Vertragsstrafen vorsieht und die er vorab unterzeichnen musste. Gewöhnungsbedürftig war für Keitel auch, dass Rammsteins Rhythmusgitarrist Paul Landers und ihr Produzent am Flughafen unter falschen Namen auftraten. „Es gab in Minsk trotzdem permanenten Trubel um den Paul“, sagt Keitel grinsend. „Auch Rammstein-Mitglieder können ja nicht mit falschem Pass in ein Land einreisen.“
Weshalb auch bereits am zweiten Aufnahmetag ein örtliches Filmteam das Studio belagerte. Bei den viertägigen Studio-Aufnahmen ging die Heimlichtuerei freilich weiter. „Nur ich hatte die Musik, also die rohen Tracks für das neue Album, im Kopfhörer“, sagt Keitel. Die 80 Sänger und Instrumentalisten aus Weißrussland hatten dagegen nur ihre jeweiligen Notenblätter in der Hand und ihre Rhythmus-Klicks im Ohr. Das heißt, sie konnten zwar keine Einsätze verpassen und wussten, welche Töne sie singen und spielen sollten. Mehr aber nicht.

Rammstein-Songs per Post nach Marktoberdorf
Zumal die Notenblätter nach jeder Probe- und Aufnahmesession sofort wieder einkassiert wurden. Selbst Keitel bekam die Noten erst zwei Tage, bevor es losging. Per Post nach Marktoberdorf, wo er mit seiner Frau lebt. „Das letzte Stück des geplanten Albums konnte ich mir aber erst in Minsk ausdrucken lassen“, berichtet er.
Ohnehin ist unsicher, wie viel von Keitel einstudierten Klängen am Ende auf der neuen CD zu hören sein werden. Denn die Bandmitglieder um Till Lindemann, Flake Lorenz und Paul Landers gelten als Individualisten, und ein Album ist bei den deutschen Metal- und Gothic-Helden in aller Regel ein „Work in Progress“. Die Stücke ändern sich während der monate- beziehungsweise jahrelangen Entstehungszeiten immer wieder.
Paul Landers hatte keinerlei Berührungsängste, jeder Musiker, der wollte, konnte gemeinsame Fotos mit Paul machen.Keitel über die Zusammenarbeit mit dem Rammstein-Gitarristen
Der Marktoberdorfer geht dennoch davon aus, dass mehr als ein paar Klangschnipsel von ihm und den Minskern zu hören sein werden. „Wir haben ja ordentlich Material aufgenommen.“ Keitel hatte bei den Aufnahmen in dem ihm gut vertrauten Radiostudio auch einiges zu sagen, suchte etwa die Studiotechniker selbst aus. Die Zusammenarbeit mit den „Rammsteinern“ sei ebenso intensiv wie angenehm gewesen. „Paul Landers hatte keinerlei Berührungsängste, jeder Musiker, der wollte, konnte gemeinsame Fotos mit Paul machen.“
Gute Stimmung im Studio
Vier Tage lang war Keitel fast ständig an der Seite des Rammstein-Gitarristen. Vier Tage lang waren sie im Studio von zehn Uhr vormittags bis 20 Uhr abends beinander und saßen danach noch im Grand Café in Minsk zusammen. „Das waren wunderbare Abende“, sagt Keitel, der auch im gleichen Hotel wie der Rammstein-Star nächtigte. Tagsüber bewunderte er die Akribie, mit der sich Landers für jede Phrasierung, für jedes noch so kleine musikalische Detail interessierte und sogar noch Änderungen an Notentexten anbrachte, wenn ihm irgendwelche Harmonien nicht gefielen. „Zugleich sorgte Landers für gute Stimmung im Studio.“

Doch wie kam die überraschende Verbindung zwischen Marktoberdorf und Berlin, zwischen Keitel und Rammstein überhaupt zustande? Bei dieser Frage holt Keitel weiter aus, erzählt von seiner Männerfreundschaft zu Rammstein-Arrangeur Sven Helbig, den er vor vier Jahren bei einem Berlinaufenthalt kennenlernte. Helbigs Arbeit schätzt er schon länger. Dessen im Kreißsaal aufgenommenen Pocket-Sinfonien beeindrucken ihn ebenso wie der Rammstein-Liederzyklus „Mein Herz brennt“, den Helbig mit seinen Dresdner Sinfonikern und Opernsänger René Pape publizierte.
Das Pathos des Bassbaritons Pape und sein rollendes Rammstein-„R“ können es dabei durchaus mit dem von Bandfrontman Lindemann aufnehmen. Sven Helbig wiederum kennt Rammstein-Keyboarder Flake seit seiner Jugend. Und arrangiert seit zwölf Jahren alles für Rammstein, was über den reinen Bandsound hinausgeht.
Ein russischer Chor klingt einfach anders als ein deutscher. Nur wegen mir oder wegen des Orchesters wären sie nicht extra nach Minsk geflogen.Keitel über die Gründe, weshalb die Zusammenarbeit zustand kam
Und nun suchte die Band, die mit ihrer Musik über 20 Millionen Tonträger weltweit verkauft hat, für ein bestimmtes Stück gezielt nach einem russisch klingenden Chor. „Deshalb rief mich Helbig vor einem halben Jahr an“, berichtet Keitel. Er macht sich keine Illusionen darüber, dass es speziell daran lag, an der Suche nach einem dunkler eingefärbten Chor, dass es zu der Zusammenarbeit kam. „Ein russischer Chor klingt einfach anders als ein deutscher. Nur wegen mir oder wegen des Orchesters wären sie nicht extra nach Minsk geflogen.“ In der Tat ist es aber wenig überraschend, dass Rammstein ihre Lieder mit klassischen Chor- und Orchesterklängen unterlegen. „Das liegt nahe. Denn Rammstein empfinden ihre Musik ja selbst als sinfonisch, groß und gewaltig“, sagt Keitel.
Gänsehaut bei Rammstein-Shows
Er macht kein Geheimnis daraus, dass die Kooperation mit Rammstein für ihn trotz seiner sonstigen Erfolge eine große Sache ist. „Rammstein fasziniert mich schon immer, weil ich ihre Bühnenshow überwältigend finde“, sagt er. Die Nähe einer Rammstein-Show zur Oper sei ja unübersehbar. Begeistert erzählt er, wie 15.000 Franzosen bei einem Konzert in Paris die für sie sicher oft unverständlichen Rammstein-Texte mitsangen. „Dabei habe ich Gänsehaut bekommen.“

Der drahtige 67-Jährige, der in seiner Freizeit gern schwarze Kleidung und dunkle Sonnenbrille trägt, hat keine Berührungsängste gegenüber Rammstein. Zumal es ihm Spaß macht, vielseitig zu arbeiten und die Grenzen zwischen Pop und Klassik auszuloten. Deshalb macht er große Oper genauso wie die Tour Disney-in-Concert, bei der er etwa in München in der Olympiahalle auftritt. Dirigiert rasch Richard Wagners „Holländer“ mit den Weißrussen, bevor er in London mit John Powell – wieder so ein bekannter Filmkomponist – arbeitet.
Von Rammstein zu Mozart
Keitel hat die Hamburger Symphoniker ebenso schon dirigiert wie das BBC Concert Orchestra oder das Radioorchester Oslo. Im Opernhaus von Manaus hat er seine musikalische Visitenkarte abgegeben, ebenso wie in Mailand, Wien, Paris, Istanbul oder Karthago. Er hat Bücher über Mozart und Rossini veröffentlicht und auch selbst schon eigene Festivals gegründet. „Diese Abwechslung ist viel spannender für mich, als wenn ich zum Beispiel als Generalmusikdirektor in Augsburg nur immer Opern und Sinfonien zu dirigieren hätte.“
Sein Traum wäre es jetzt noch, mit Rammstein gemeinsam auf der Bühne zu stehen und dort live deren Hits wie „Sonne“, „Engel“ oder „Spieluhr“ zu dirigieren. „Die Hoffnung stirbt zuletzt“, sagt Keitel und lacht. Immerhin wird er die Berliner Rockstars aber als Zuschauer bald wieder live erleben. Paul Landers hat ihn nämlich zum Tournee-Auftakt eingeladen. Gut möglich, dass er dann auch mit tausenden von Rammstein-Fans mitsingen wird: „ Mein Herz brennt!“ Klar ist jedenfalls, dass sein Herz für diese Band brennt.