Das Szenario lässt an einen apokalyptischen Hollywood-Thriller im sonst so idyllischen Allgäu denken: Behaarte Gestalten mit Hörnern oder Geweihen pirschen durch die Dunkelheit, mit Ruten oder Ochsenfieseln bewaffnet. Tiefe, dumpfe Schellen oder rasselnde Ketten verraten ihren Weg, schon bevor sie sichtbar auftauchen. Am 5. oder 6. Dezember (von Ort zu Ort verschieden) ist im Allgäu die Hölle los. Immer wieder gibt es ahnungslose Urlauber oder frisch Zugezogene, die das Brauchtum des Klausenlaufens nicht kennen. Die das Entsetzen packt, vor allem, wenn sie aus Versehen abends unterwegs sind und mitten rein geraten in dieses Szenario.
Gefährlich ist das heute aber nicht mehr. Während früher mindestens schmerzhafte Hiebe und blaue Flecken garantiert waren, manche „Opfer“ sogar in den eisigen Brunnen geworfen wurden, sind die Klausen heutzutage zivilisierter. Vor allem junge Mädchen werden gern und ausgiebig durchgestrubbelt oder mit Ruten „gestreichelt“. Profis unter den Zuschauern haben sich mit dicker Unterwäsche oder sogar Zeitungen über den Schenkeln gewappnet. In manchen Orten ist das Klausenlaufen sogar auf eine abgegrenzte Zone auf dem Marktplatz beschränkt. Die wilden Gestalten und die Zuschauer sind durch einen Zaun getrennt. Und nur manchmal wagt sich ein Todesmutiger hinein ins Klausengetümmel.

Wo sind die Wurzeln dieses archaischen, ganz offensichtlich vorchristlichen Brauches? Die Spur ist nicht schwer zu entdecken. Sie läuft über den wilden Begleiter des gütigen Bischof Nikolaus, den Mann fürs Grobe: Knecht Ruprecht. Sein Name führt zur Percht oder Berchta. Wie an vielen Festtagen haben wir es mit einem Mix zu tun – die christliche Tradition wurde auf die alte heidnische aufgepflanzt. So wie viele Kirchen und Kapellen auf keltische Heiligtümer.
Dem Brauch auf der Spur
Die bis in uralte matriarchale Zeiten zurückreichende Göttin Percht hat zwei Seiten: Segensbringerin (in ihrem weißen lichten und roten fruchtbaren Aspekt; zwei Farben, die sinnigerweise heute der Nikolaus/Weihnachtsmann trägt). Die andere, die schwarze Seite, war furchtbar und strafend. Da war es mit ein paar Rutenhieben nicht getan. Den Bauch aufschlitzen und mit Steinen füllen, wie es im Rotkäppchen-Märchen dem Wolf widerfährt, war ursprünglich eine mythologische Aufgabe der Percht. Die Vorstellung, dass auch freundliche Götter eine Rückseite haben, von der man sich ihnen nicht nähern sollte, ist heute noch in Indien selbstverständlich.
Die Doppelgesichtigkeit, das nahe Beieinander von Gut und Böse, hat sich in Nikolaus- und Faschingsbräuchen erhalten. Hier gelang es der kirchlichen und weltlichen Obrigkeit nicht, die „schiachen“ und „wiaschten“ Masken abzuschaffen.
Die Perchten hatten Rügerecht. Sie waren für Sühne zuständig, damit danach der Segen auf fruchtbaren Boden fallen konnte. Daran erinnern im Allgäu bis heute die sogenannten Klausebärbele: Frauen, die am Barbaratag (4. Dezember) nach dem Motto „Ladies first“ ins Kostüm schlüpfen und die Stube mit dem Reisigbesen auskehren. Oft wurde dann vor dem Dorf ein großer Haufen angezündet, manchmal auch mit Flachsabfall. Es galt zu reinigen für die heilige Zeit um Wintersonnwend, in der sich die Tore zum Jenseits öffneten. Diese Vorbereitung wurde ernst genommen. Die „Klopfarsdäg“, wie sie im Allgäu heißen, fallen auf die drei Donnerstage im Advent. Das prüfende Klopfen hat ja der Nikolaus beibehalten.

Bercht heißt hell, glänzend. Auch das englische Wort bright stammt aus dieser Wurzel. Gerufen wurde die Percht mit Glocken, auch ein Muss für die Klausen. Das ist übrigens der ursprüngliche Grund für die Viehschellen. Ein Hüter der Tiere war der keltische gehörnte Gott Cernunnos, wie sein griechischer Kollege Pan mit Kuhhörnern oder mit einem Hirschgeweih dargestellt, einem Klausen im Allgäu zum Verwechseln ähnlich. Auf dem silbernen dänischen Gundestrup-Kessel aus vorchristlicher Zeit sitzt Cernunnos im Schneidersitz wie im Yoga, kaum vom indischen Herrn der Tiere, Pashupati, zu unterscheiden. Ein Beweis für frühe mythologische Vernetzung.
In Börwang ist die Hölle los
Lenken wir wieder den Blick ins heutige Allgäu. Im kleinen Ort Börwang ist im Vierjahresrhythmus die Hölle los. 400 Perchten, Klausen und Krampusse sorgten zuletzt 2014 dafür, dass sich das sonst so beschauliche Dorf im nördlichen Oberallgäu in „Börwang brennt“ (so der Titel der Veranstaltung) in einen Hexenkessel verwandelte. Knapp 20.000 Zuschauer wollten sich zu nächtlicher Stunde das Brauchtum-Spektakel nicht entgehen lassen.
Donnernder Glockenhall, Feuer und Rauchschwaden, dazu furchteinflößende Fratzen, zottelige Gewänder, Rasseln und Schellen: Es ist eine besondere Atmosphäre, wenn im Allgäu die Klausen unterwegs sind. Und für jene, die im oft selbst gebastelten Kostüm stecken, ist es ein großer Schritt zur „Mannwerdung“ und Volljährigkeit. Doch Vorsicht: Die Klausen werden in vielen Häusern von Verwandten und Freunden erwartet und mit einem Schnaps begrüßt. So mancher junge Bursche, durstig unter den warmen Fellen, erwischte da zu viel, schlingerte und torkelte anschließend nur noch durch die Gassen.
Die ersten schriftlichen Hinweise auf das Perchtenlaufen finden sich übrigens erst 1582. Das heißt aber nicht, dass dieser Brauch so „jung“ ist. Sondern nur, dass man zu dieser Zeit diesen immer noch lebendigen Aberglauben energisch unterdrücken wollte. Dass Aberglauben mitunter zu absurden Denkweisen führen kann, zeigte sich in neuerer Zeit, als in einer Oberallgäuer Gemeinde vor einigen Jahren ein Bursche mit türkischem Migrationshintergrund als Klaus abgelehnt wurde.

Rauhnächte: Kann sogar das Vieh sprechen?
Sehen wir das Klausenlaufen zum Abschluss nicht mehr als isoliertes Überbleibsel, sondern im größeren Zusammenhang des Jahreskreises. Vom Perchten- oder Klausenlauf führt eine direkte Verbindung zur „Wilden Jagd“, die der germanische Göttervater (im Norden Odin, im Süden Wotan) in den zwölf Rauhnächten anführte. Ihm folgten die Seelen der früh oder gewaltsam Verstorbenen. Der Jahres-Rhythmus unserer Vorfahren war schlicht eine Überlebensfrage. Sommer bedeutete Diesseits. Wenn die Ernte eingebracht war und die Natur ihre Kräfte zurückzog, öffnete sich der Blick ins Jenseits. Nun hatte man Gelegenheit, über den Zaun zu schauen. Was ja auch die „Hagazussa“ tut, die Hecken- oder Zaunreiterin, wie die Hexe ursprünglich hieß.
Anfang November, wenn wir Allerseelen feiern, wurden die Ahnen um gute Zusammenarbeit gebeten. Die nun einsetzenden Befragungen und Zukunftsprognosen hatten ihren Höhepunkt in den Rauhnächten. In dieser Zeit, so sagte man auch im Allgäu, könne das Vieh sprechen. Für die Kommunikation mit dem Jenseits gab es Spezialisten: die Schamanen. Masken, wilde Verkleidungen und Musikinstrumente gehörten zu ihrem Handwerkszeug. In dieser Tradition bewegen sich auch heute noch, bewusst oder unbewusst, die wilden Klausen.
Dieser Artikel erschien zuerst im Magazin "Griaß di' Allgäu", Ausgabe Winter 2015/16. Alle Informationen zur aktuellen Ausgabe findest Du auf www.griassdi-allgaeu.de