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Erste Zeitungen in Deutschland stellen Druck ein - das sind die Auswirkungen

Ein Ortsbesuch

So verändert sich ein Ort, wenn die Heimatzeitung nicht mehr gedruckt wird

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    Zeitungen in Brandenburg und Thüringen stellen nach und nach den Druck ihrer Heimatzeitungen ein. Wie konnte es so weit kommen? Eine Spurensuche.
    Zeitungen in Brandenburg und Thüringen stellen nach und nach den Druck ihrer Heimatzeitungen ein. Wie konnte es so weit kommen? Eine Spurensuche. Foto: Blickwinkel, Imago Images (Symbolbild)

    Der weiß lackierte Stahlblechzylinder vor der Tür des Backsteinhauses ist leer an diesem nebelfeuchten Morgen, genau wie schon in den Tagen und Wochen zuvor. Karl Roth, der mit seinen 87 Jahren nicht nur rüstig, sondern in jeder Hinsicht fit wirkt, schaut trotzdem hinein, es liegt nicht nur an der Macht der Gewohnheit.

    So richtig kann er es immer noch nicht fassen, dass in dem Behälter nicht mehr drin ist, was laut Aufschrift hineingehört: Zeitungen. „Jahrzehntelang, täglich außer sonntags, bin ich morgens gleich nach dem Aufstehen raus und hab’ unsere Lokalzeitung reingeholt“, sagt der Rentner.

    Heimatzeitung wird nicht mehr gedruckt: 87-Jähriger fühlt sich "ausgeschlossen"

    Beim Kaffee am Frühstückstisch habe er dann zusammen mit seiner zwei Jahre jüngeren Frau gelesen, was los ist in der Gegend. Roth lebt in Sadenbeck, einem kleinen Dorf in der Nähe von Pritzwalk im brandenburgischen Kreis Prignitz.

    „Wir kennen hier ja viele Leute, sind oder waren in etlichen Vereinen aktiv, wollen wissen, wie es der heimischen Wirtschaft geht“, sagt Roth. Deshalb sei ihnen das Abonnement der örtlichen Zeitung so wichtig – „gewesen, muss man ja leider sagen“.

    Jetzt fühle er sich „abgeschnitten und ausgeschlossen vom öffentlichen Leben“. Wenn die Politik wirklich den ländlichen Raum fördern wolle, dürfe sie es nicht zulassen, „dass die Zustellung nur am Geld scheitert“, sagt Roth.

    Märkische Allgemeine stellt gedruckte Lokalausgaben ein

    Zum 1. Oktober hat die Märkische Allgemeine ihre gedruckte Lokalausgabe Prignitz-Kurier eingestellt. Ab Dezember betrifft das auch die Lokalausgaben in Kyritz und Wittstock. Allein in der Prignitz sind rund 2500 Abonnenten betroffen, längst nicht alle sind zum digitalen Angebot gewechselt, das der Verlag, der zur Hannoveraner Mediengruppe Madsack gehört, auch künftig anbietet.

    Karl Roth, der als Ingenieur nach eigener Aussage dem technischen Fortschritt gegenüber immer aufgeschlossen war, kann es sich etwa nicht mehr vorstellen, die Artikel künftig auf dem „Blechmaxe“ zu lesen, wie er den Computer nennt. „Für uns kommt das nicht mehr infrage“, sagt er. Eine gedruckte Alternative wie die Zeitung Der Prignitzer , die im Medienhaus Nord in Schwerin in Mecklenburg-Vorpommern erscheint, gibt es nicht in allen Teilen der Region.

    Gegenden in Brandenburg und Thüringen haben keine gedruckten Heimatzeitungen mehr

    Was passiert, wenn die gedruckte Heimatzeitung verschwindet? Nach dem Landkreis Greiz in Thüringen, wo die Ostthüringer Zeitung schon im Mai ihre gedruckte Ausgabe eingestellt hatte, ist die Prignitz die zweite deutsche Gegend, in der viele Menschen keine gedruckte Lokalzeitung mehr ins Haus geliefert bekommen können.

    Die Madsack-Gruppe hat das Aus ihres Prignitzer Papier-Angebots mit den steigenden Druckkosten, der stark rückläufigen Zahl der Abonnenten und vor allem der immer teurer werdenden Zustellung begründet. Doch was betriebswirtschaftlich nachvollziehbar ist, hat seinen Preis – für die regionale Wirtschaft und den Lokalsport, und, ohne allzu große Übertreibung, für den Zusammenhalt der Gesellschaft und letztlich die Demokratie.

    Mindestlohn sorgte für gestiegene Druckkosten

    So sieht das auch Stefan Hilscher, Vorstandsvorsitzender des Bundesverbandes Digitalpublisher und Zeitungsverleger (BDZV). In Deutschland erscheinen dem Verband zufolge 338 gedruckte Zeitungen, davon 319 Tageszeitungen. Rund zehn Millionen Exemplare erreichen regelmäßig 37 Millionen Menschen – über die Hälfte der deutschsprachigen Bevölkerung ab 14 Jahren.

    „Eine große Zahl an Menschen wünscht ihre Zeitung bis heute gedruckt, gerade in ländlichen Gebieten“, sagt Hilscher. Das Problem: „Die Zustellung ist immer teurer geworden.“ Fast ein Drittel der gesamten Kosten eines Zeitungsverlages entfalle auf die Auslieferung bis zu den Briefkästen und Zeitungsrollen. Ein Grund war laut Hilscher die Einführung des Mindestlohns. „Wir freuen uns für viele Beschäftigte über den Mindestlohn, aber der Effekt für die Medienlandschaft war, dass er die Zustellung stark verteuert hat.“

    Heimatzeitung sorgt für Zusammenhalt - und Demokratie

    Gerade in dünn besiedelten Gegenden wird die morgendliche Zeitungslieferung zur Herausforderung. In der Prignitz, sagen die Einheimischen oft, leben so wenige Menschen pro Quadratkilometer, dass sie nach der Statistik der Europäischen Union als unbesiedelt gelte. Zwischen winzigen Orten liegen lange Autofahrten. Die Zeitung, das war auch so etwas wie die Klammer, die die Gegend zusammenhielt.

    „Ein Gemeinwesen kann nicht funktionieren, wenn alle in eigenen Blasen leben, wenn es keinen Austausch mehr gibt“, sagt Stefanie Stolzenberg-Spies. Die Hamburgerin aus einer angesehenen Kaufmannsfamilie hat sich in die raue Prignitz verliebt und organisiert dort in ehrwürdigen Gutshäusern Runden wie die „Streckenthiener Kreise“ oder „Nennhauser Gespräche“.

    Weil ihr der Begriff „Salon“ zu mondän klingt, spricht sie lieber von „Unterhaltungen beim Abendbrot“. Ziel ist die Stärkung der Demokratie, weshalb ihre Treffs von namhaften Stiftungen gefördert werden. Profi-Netzwerkerin Stolzenberg-Spies warnt: „Wenn es nicht mal mehr eine gedruckte Zeitung gibt, ist die Demokratie in Gefahr.“

    "Das Gefühl, abgehängt zu werden", wenn Zeitung nicht mehr gedruckt wird

    Zumal es um mehr geht als nur die Zeitung allein, wie der Leipziger Medienwissenschaftler Lutz Mükke beobachtet hat. „Der Rückzug von Printmedien aus der Fläche ist vielerorts eingebettet in ein ganzes Bündel an Rückzügen“, sagt er. „In der Fläche verschwinden auch Tante-Emma-Läden, der öffentliche Nahverkehr wird ausgedünnt.“

    Benachteiligt werden Leserinnen und Leser, die dem Trend zur Digitalisierung nicht folgen können oder wollen. Die Folgen seien weniger zwischenmenschliche Kommunikation und weniger Diskurs über das Gemeinsame in der Gesellschaft. „Bei all dem entsteht natürlich auch Verdruss und das Gefühl, abgehängt zu werden. Diesen toten Winkel können Populisten nutzen“, sagt Mükke.

    Politik reagiert nicht auf Probleme der Zeitungsverlage

    Der Zusammenhalt der Gesellschaft bröckelt, Religion und Politik entwickeln längst nicht mehr die Bindungskraft wie früher. Und jetzt geht auch noch die gedruckte Zeitung, dieser Marktplatz für Ideen und Wirtschaft, Kontaktbörse und Anzeigenort jenseits von Facebook und Co. Und ja, auch ein Organ, das hinschaut, was im kleinsten Weiler im Gemeinderat und sonst passiert.

    Der Politik scheint das egal zu sein. Sie lässt die Verlage mit steigenden Kosten bei Papier, Energie und Zustellung allein – entgegen aller Versprechen. Sicher, alle müssen sparen, und das 60-Milliarden-Loch im Bundeshaushalt macht Themen wie die Zustellförderung nicht einfacher. Am Ende aber zahlen alle den Preis. Denn es ist kein Geheimnis, wie Landstriche ohne gedruckte Zeitung aussehen. Man kann sie besuchen und sich umhören. Wie hier, im wirtschaftlich schwachen und wenig besiedelten Gebiet der Prignitz.

    Menschen sind nach Einstellung der gedruckten Zeitung weniger informiert

    Siegbert Winter, Elektromeister und für die SPD im Pritzwalker Stadtrat, beobachtet die konkreten Folgen in der Lokalpolitik. Schon jetzt, wenige Wochen nach Einstellung der gedruckten Zeitung, merke er, dass viele Menschen nicht mehr so informiert seien wie zuvor.

    „Sogar ganz normale Leute lassen sich von Verschwörungstheorien anstecken. Wann immer es etwa um die Unterbringung von Flüchtlingen geht, sind hanebüchene Falschmeldungen im Umlauf.“ Er und andere örtliche Politiker seien „nur noch dabei, Sachen richtigzustellen“. Die politischen „Ränder“ dagegen profitierten vom Wegfall eines Mediums, „in dem sich sauber recherchierte Fakten nachlesen lassen“.

    Allgäuer Zeitung und Augsburger Allgemeine wollen Zeitung weiterhin drucken

    In der Theorie hat die Politik das Problem erkannt. Die Praxis sieht anders aus. Zwar wurde den Verlagen eine Zustellförderung bereits zweimal in Aussicht gestellt, zuerst von der Großen Koalition Angela Merkels und nun durch die Ampelregierung. „Bisher zeigt aber kein Ministerium den Willen, das Thema anzugehen“, sagt BDZV-Chef Hilscher.

    Dabei hätte die Zustellförderung mehr Fairness in den Wettbewerb mit dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk gebracht und die Verlage auf dem Weg der Digitalisierung unterstützt. Zumal der Kostendruck die gesamte Branche trifft. Auch bei der Allgäuer Zeitung und in der Mediengruppe Pressedruck, in der die Augsburger Allgemeine erscheint, kämpft man mit veränderten Bedingungen. Der Papierpreis liegt auf einem höheren Niveau als vor Corona und die Kosten für Tausende Zusteller sind innerhalb von zwei Jahren um über 30 Prozent gestiegen. Pläne für einen Rückzug bei der Zustellung der gedruckten Zeitung gibt es nicht.

    "Die Leute sind total verzweifelt"

    Zurück in die Prignitz, in die Pritzwalker Altstadt. Auch die örtliche Wirtschaft hat Bauchschmerzen. Christine Markert betreibt ein Presse- und Tabakgeschäft, gerade bezahlt ein blasser Senior eine Vorratspackung Zigarettentabak zum Selbstdrehen, groß wie ein Waschmittelpaket, spontan entscheidet er sich, noch eine zweite mitzunehmen. „Wird ja nicht schlecht“, nuschelt er.

    Die Raucher sind geblieben, doch seit es die gedruckte Lokalzeitung nicht mehr gibt, kommen andere Kunden nur noch selten. „Die Leute sind total verzweifelt, die wollen wissen, was los ist in der Gegend, was die Politik macht“, sagt Christine Markert. „Viele wohnen auf dem Land, die wollen keine Online-Nachrichten, schon weil die Internetverbindung schlecht ist und es viele Funklöcher gibt. Andere kommen mit der Technik nicht zurecht“, redet sie sich in Rage.

    Wirtschaft, Zusammenhalt, Demokratie – die gedruckte Zeitung verbindet

    Optikerin Birgit Runge betreibt zusammen mit ihrem Mann zwei Geschäfte in Pritzwalk und Wittenberge, engagiert sich im Gewerbeverband. Auf Neueröffnungen oder Aktionen hinzuweisen, sei schwieriger geworden, sagt sie, „für die heimischen Geschäfte war die Lokalzeitung eine wichtige Plattform, um gezielt die Kunden zu erreichen“. Werbung im Internet oder in kostenlosen Blättern werde oft kaum beachtet. „Keine Zeitung bedeutet weniger Information. Und das ist bedenklich“, betont Runge.

    Wirtschaft, Zusammenhalt, Demokratie – die gedruckte Zeitung verbindet. Und viele merken erst, was fehlt, wenn sie nicht mehr zugestellt wird. Auch im Lokalsport zum Beispiel. „Wie hat der Lieblingsverein gespielt, was gibt es Neues aus der Jugendarbeit, wo sind am Wochenende interessante Veranstaltungen – all das wollen die Leute erfahren und das geht eben am besten auf Papier“, sagt Birka Eschrich.

    Die Geschäftsführerin des Kreissportbunds Prignitz vertritt eine Vielzahl von Vereinen und findet, dass es für fast alle ohne gedruckte Zeitung schwieriger wird. „Wir müssen etwa Übungsleiter und neue Mitglieder finden, aber das ist mühsam, wenn die Vielfalt der Sportangebote gar nicht mehr bekannt wird“, klagt sie. Vereine bräuchten Öffentlichkeit, die auch Anerkennung bedeute. Und wenn es die nicht mehr über die Zeitung gebe, „dann gehen wir schweren Zeiten entgegen“.

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