Ein lautes Kreischen entfährt der Menschenmenge am Forggensee. Gerade haben zwei junge Singer-Songwriter ihr kurzes Set beendet, als die Mitglieder der Kelly Family einzeln seitlich auf die Open- Air-Bühne am Festspielhaus steigen. Es ist das erste Konzert dieses Jahres mit Angelo, Patricia, Joey, Jimmy, John und Kathy. Vor zwei Jahren starteten die sechs ein fulminantes Comeback. Wer in den 1990er Jahren aufgewachsen ist, kam an der irisch-amerikanischen Großfamilie nicht vorbei.
In Füssen blieb es blieb bei dem kurzen Kreischalarm – die große Hysterie ist Vergangenheit. Aufgedrehte und ohnmächtig niedersinkende Teenies sieht man heute nicht mehr, die Fans sind älter, gesitteter und nehmen die Musik mit mehr Genuss wahr. Lange Schlangen und Nächte im Schlafsack vor den Konzertsälen sind passé.

Der Fan bucht heute seinen Sitzplatz im Voraus. Das haben auch Jessica Reisigl (35) und ihre Tochter Lilly (8) aus Reutte getan, ganz weit hinten im weiten Halbrund. Jessica Reisigl erlebte die Kelly Family vier oder fünf Mal, auch in Immenstadt und erstmals mit 14 Jahren. Heute ist sie vor allem aus nostalgischen Gründen hier. Eine noch kürzere Anreise hatte Margit Siegmund (49). Sie kam in wenigen Minuten zu Fuß aus dem benachbarten Füssener Stadtteil Weidach zu ihrem ersten Kelly-Konzert. Die drei sind wie die restlichen 6000 Besucher gespannt auf den Auftritt.
Die Kelly Family lebte lange in Spanien, wo die meisten der Kinder geboren wurden. Dort fasste Vater Daniel Kelly den Entschluss, fortan von der Musik zu leben. Mit einem alten Doppeldeckerbus zuckelte die zottelige Hippiebande ohne offiziellen Schulunterricht durch Europa und spielte auf der Straße.
„Bei ‚Amazing Grace’ flossen die Tränen“, erzählt Angelo Kelly, „und die Mark in den Hut“. Ein hartes Leben, weitgehend frei von bürgerlichen Zwängen. Im Bus war es oft kalt und eng mit Küche und Wohnzimmer unten, oben schlief die Familie. Die Kellys machten ihr Ding – bis der große Durchbruch und Erfolg in den Charts kam. Von da an war nichts mehr wie zuvor.
Drei Kellys fehlen
Das Familienunternehmen ist heute nicht mehr komplett. Drei Mitglieder fehlen in Füssen. Barby Kelly lebt zurückgezogen, Maite Kelly hat im Schlagergeschäft Fuß gefasst und Michael Patrick Kelly ist nach einer langen Auszeit im Kloster nun auf Solopfaden und als Musikcoach im Privatfernsehen erfolgreich. Dafür tritt der weitgehend unbekannte Paul Kelly auf die Bühne. Gehüllt in einen Schottenrock färbt der 55-Jährige die irischen Folkstücke mit Drehleier und Penny Whistle ein.
Die Kellys sind gute Musiker, die ihr Handwerk beherrschen. Überzeugend der stimmkräftige Harmoniegesang aller während der einfach gehaltenen Refrains, die keltischen Wurzeln mit traurigen Balladen oder fröhlichen Jigs, starke Pop-Hits wie „Fell in Love with an Alien“, großes Drama mit Kathy Kellys klassisch geschulter Stimme, das harte „Why Why Why“ mit Joey Kelly als Frontmann oder das satte Schlagzeug-Solo von Angelo Kelly, der mit Double-Bass in den Metalbereich vordringt und dafür erstaunt-anerkennendes Nicken erntet.
Dieser breitgefächerte Stil-Mix aus moderner und traditioneller Musik, aus druckvollen und intimen Momenten fördert einerseits die Partystimmung, andererseits Gänsehaut. Oder war dafür die Kühle der sternenklaren Nacht am See verantwortlich? Kalt bleiben auch die Sitze im Barockgarten vor dem Festspielhaus. Deren Aufbau hätte man sich komplett sparen können.
Arme schwenken und Mitsingen geht in der Aufrechten einfach besser. Dabei entsteht tatsächlich so etwas wie Gemeinschaftsgefühl, das kulminiert, als grüne Plastikbänder – nicht ganz umweltfreundlich – in rauen Mengen wie ein Silvesterfeuerwerk über dem Publikum nieder regnen. Dann gibt es kein Halten mehr, und die Fans drängen zur Bühne. Vergeblich mühen sich die zuvor gestrengen Sicherheitsbediensteten, dem unvermittelten Ansturm Herr zu werden. Fast ein bisschen wie seinerzeit …
Kitsch war gestern
„Früher fand ich die Kellys auch toll, das Lied ‚An Angel’ berührte mich“, erinnert sich Margit Siegmund und schränkt ein: „Aber man traute sich ja nicht zu outen.“ Manche kitschige Peinlichkeit von damals ersparen die erwachsenen Kellys ihren Fans heute. So kann Margit Siegmund ausgelassen mitfeiern: „Das ist Balsam für die Seele“, schwärmt sie. Auch die kleine Lilly, die zum ersten Mal auf einem so großen Konzert ist, lässt sich anstecken, lächelt selig und klatscht. „Ein super Revival“, resümiert Mutter Jessica Reisigl begeistert auf dem Weg zum Ausgang, „die machen immer noch tolle Musik“. Einige Fans hängen sich das herumliegende Plastikgrün wie Schals um den Hals und nehmen die Streifen als Souvenir mit nach Hause.
Königswinkel-Open-Airs
Es gibt vier weitere Open-Air-Konzerte am Festspielhaus in Füssen. Karten sind unter anderem in den Service-Centern der Allgäuer Zeitung unter Telefon 0831/206 55 55 erhältlich:
Toto
17. Juli
Joan Baez
18. Juli
Mark Forster
20. Juli, ausverkauft!
Rea Garvey
9. August