Erst stockt ihm der Atem, dann bricht seine Stimme kurz, als er sich von seiner Gemeinde verabschiedet. Gerade wurden ihm im Namen von Pfarrgemeinde- und Pastoralrat mit den Worten „Vielen Dank für alles“ kleine Geschenke übergeben, es brandet Applaus auf. Eine Kirchenbesucherin sagt später: „Es ist wirklich schade, dass er geht. Er war immer für uns da.“ Der katholische Pfarrer aus dem Landkreis Aichach-Friedberg tritt an diesem letzten Juni-Sonntag sichtlich berührt an den Ambo: „Ich darf mich bedanken, für die schöne Gestaltung und rückblickend für die schöne, gute Zeit“, sagt er. Was nach einem gewöhnlichen Abschied klingt, hat eine außergewöhnliche Vorgeschichte: Der Geistliche verlässt seine Gemeinde nicht freiwillig.

Es handelt sich bei ihm um jenen Pfarrer, der von einem Sexualpartner nach dem Geschlechtsverkehr erpresst wurde. Kürzlich kam es deswegen vor dem Amtsgericht Augsburg zum Prozess, bundesweit berichteten Medien. Der Prozess hat, jenseits des konkreten Falls, auch Fragen nach dem Umgang der katholischen Kirche mit homosexuellen Klerikern aufgeworfen.
Der Erpresser forderte 50.000 Euro von dem Pfarrer aus dem Kreis Aichach-Friedberg
Man könne davon ausgehen, „dass 20 bis 30 Prozent der katholischen Priester schwul sind“, sagt Wunibald Müller im Gespräch. Der katholische Theologe und psychologische Psychotherapeut leitete von 1991 bis 2016 das Recollectio-Haus der Benediktinerabtei Münsterschwarzach bei Würzburg. Es bietet, so steht es auf dessen Internetseite, unter anderem katholischen Geistlichen die Möglichkeit, „sich körperlich, psychisch und geistlich-spirituell zu sammeln“.
Müller weiß, was es bedeuten kann, wenn katholische Priester ihrem sexuellen Verlangen nachgeben – obwohl sie sich „um des Himmelreiches willen“ zu einem zölibatären Leben verpflichtet haben, also zu Ehelosigkeit und sexueller Enthaltsamkeit. Diese Priester, vielfach „fähige Leute“, litten unter der kirchlichen Sexualmoral, erklärt Müller. Schließlich heißt es im Katechismus, dass homosexuelle Handlungen „in sich nicht in Ordnung“ und „in keinem Fall zu billigen“ seien.
In seinem Abschiedsgottesdienst am Sonntag verliert der Pfarrer aus dem Kreis Aichach-Friedberg nur wenige Worte über das Vorgefallene. Die aber sind von Gewicht. Zu Beginn sagt er: „Hiermit gebe ich euch bekannt, dass vor zweieinhalb Jahren versucht worden ist, mich zu erpressen.“ Einige Gemeindemitglieder dürften geahnt haben, dass er der Pfarrer aus den Medienberichten ist. Jetzt haben sie Gewissheit. Berichtet worden war, dass ein Pfarrer über die Online-Dating-Plattform „Romeo“ einen heute 50-Jährigen kennenlernte, mit dem er einvernehmlich Sex hatte. Danach schickte ihm der 50-Jährige im November 2022 eine WhatsApp-Nachricht, die mehrere vom Pfarrer selbst erstellte Nacktbilder enthielt, und forderte 50.000 Euro. Der Pfarrer zahlte nicht und verständigte die Polizei. In der Folge sendete der 50-Jährige im Januar 2023 eine E-Mail mit den Nacktbildern ans Pfarramt.
Was der Pfarrer am Sonntag Mitgliedern seiner Gemeinde im Gottesdienst sagte
Wie es danach weiterging, fasst der Pfarrer im Gottesdienst so zusammen: „Der Täter wurde Ende Mai dieses Jahres verurteilt und die Erpressung wurde in der Zeitung veröffentlicht.“ Dabei seien in Berichten mancher Medien persönliche Daten genannt worden, die ihn identifizierbar gemacht hätten. Das habe zur Folge, dass er sich bald „eine Auszeit nehme und diesen Ort verlasse. Danach werde ich an einem anderen Ort einen Neuanfang setzen“.
Wie dieser Neuanfang aussehen könnte, inwiefern er unter dem Dach der Kirche möglich sein wird – das bleibt am Sonntag unklar. Der Sprecher des Bistums Augsburg, Ulrich Bobinger, sagt nach dem Gottesdienst auf Anfrage: „Wir haben erst durch die Berichterstattung in der Presse von dem Fall erfahren. Inzwischen hatte der Priester ein Gespräch mit den Personalverantwortlichen der Diözese. Als Ergebnis steht nun, dass er seine Gemeinde verlässt und eine Auszeit nimmt. Über das weitere Vorgehen wird noch beraten und dann entsprechend entschieden.“ Auf Nachfrage unserer Redaktion berichtet der Pfarrer selbst von „einem sehr, sehr herzlichen, fast brüderlichen Gespräch“ mit Verantwortlichen der Diözese.
Wunibald Müller erhofft sich von Kirchenverantwortlichen in derartigen, vergleichbaren Fällen, in denen den betreffenden Klerikern kirchenrechtliche Konsequenzen wie der Entzug von Ämtern und Aufgaben drohen, einen zugewandten Umgang und die Berücksichtigung des jeweiligen Einzelfalls. Man dürfe nicht, aus einem Automatismus heraus, sofort den Stab über jemandem brechen, warnt er. „Es geht auch darum, dass für den betroffenen Priester das Leben weitergehen muss.“
Experte Wunibald Müller: Priester sollten selbst entscheiden dürfen, ob sie zölibatär leben möchten
Ein Einzelfall ist der Pfarrer aus dem Kreis Aichach-Friedberg dabei nicht. Der Würzburger Theologe und Therapeut Müller berichtet von heterosexuellen Priestern, die in Bordelle gingen, und von homosexuellen Priestern, die entsprechende „Saunen“ aufsuchten. Andere lebten unter großen Geheimhaltungsanstrengungen in langjährigen Beziehungen – alle in ständiger Angst vor Entdeckung oder gar Erpressung. Dies stelle eine schwere Belastung für Kleriker dar. Zum einen wegen des Bruchs des Zölibatsversprechens, der bis zur Entlassung aus dem Klerikerstand und damit bis zum sozialen Abstieg führen könne. Zum anderen, weil Intimität und Sexualität wesentliche Bestandteile der menschlichen Grundausstattung seien.
Für Müller folgt daraus etwa, dass der Pflichtzölibat abgeschafft werden müsse. „Grundsätzlich muss jeder für sich selbst entscheiden, ob er als Priester zölibatär oder in einer Beziehung leben möchte“, sagt er. Dies gelte auch für homosexuelle Beziehungen. Müller verweist auf die evangelische Kirche. In der bayerischen Landeskirche beispielsweise dürfen seit Jahren schon gleichgeschlechtliche Pfarrer – oder Pfarrerinnen – im Pfarrhaus zusammenleben.
Für die katholische Kirche käme das einer Revolution gleich. Und doch sieht Müller Fortschritte. Die Kirche sei inzwischen an den Punkt gelangt, dass sie selbst Kandidaten, deren homosexuelle Orientierung ihr bekannt sei, zu Priestern weihe. Der Münchner Erzbischof Reinhard Kardinal Marx hatte vor drei Jahren erst unmissverständlich erklärt, Homosexualität sei „keine Einschränkung“, Priester zu werden – vorausgesetzt, derjenige halte sich an „eine keusche Lebensweise“.
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