Wie eine Nachtigall sang Ian Anderson noch nie. Doch bei seiner neuen Tour müht und quält sich der Querflöten-Rocker spürbar mit seiner Stimme. 1.800 Besucher nahmen jetzt in der Big Box Allgäu in Kempten den vertrackten Sound der englischen Progressive-Band Jethro Tull unter die Lupe.
Das Konzert von Jethro Tull ist als Rockoper konzipiert. Hinter der fünfköpfigen Band läuft während der gesamten Show ein Film, der sich mit den Entwicklungen von Land und Landwirtschaft und der zukünftigen Sicherstellung der Welternährung beschäftigt. Und mit dem Leben des Agrar-Pioniers Jethro Tull, der der Band ihren Namen gab.
Auf historischen Bildern ziehen Pferde Pflüge durch Englands Erde. Hoch gerüstete Traktoren und monströse Erntemaschinen walzen darüber. In Labors wird geklont und mit genetisch veränderten Pflanzen experimentiert.

Die Idee, den virtuellen Teil auf Leinwand und das Live-Konzert zu verknüpfen, mag gut gemeint sein. In der Umsetzung wirkt es aufgesetzt. Die Bilderflut von der Großleinwand lenkt den Blick fort von der realen Band. Dadurch, dass deren Songs und Film zeitlich aufeinander abgestimmt wurden, müssen spontane Soli entfallen und leider auch die beliebten schrullig-ironischen Ansagen Andersons.
Fünf neue Stücke
Neben fünf thematisch eingefügten, unveröffentlichten neuen Stücken taucht „Tull“ tief ein in die progressive Phase mit dem Schwerpunkt „Aqualung“ und in die spätere Folk-Ära. Die Band fischt seltene Perlen wie „Wind-up“, „Weathercock“ oder „Jack-in-the-Green“ aus dem umfangreichen Backkatalog. „A new Day Yesterday“ kommt als erstaunlich explosive Bluesrock-Nummer mit Ian Anderson an der Mundharmonika.
Die Höhen brechen weg
Singt er, fällt sofort auf: Die Stimme hat kräftig Federn gelassen. Besonders angestrengt klingt sie bei „Living in the Past“ und „The Witch’s Promise“; die Höhen brechen weg, Anderson ringt, man leidet mit, und am liebsten hätte man ihm beim Singen geholfen.
Zu einem großen Teil hat der Chef aber vorgesorgt: David O’Donnell, sein Bassist David Goodier und die Isländerin Unnur Birna Björnsdóttir entlasten ihn playback von der Leinwand, so dass Anderson nicht einmal 50 Prozent seiner Texte selbst singen muss.
Bei aller Querverbindung mit der Leinwand steht fest: Der Gesang gehört live auf die Bühne. Warum engagiert Anderson keinen tauglichen Sänger? Dann könnte er sich ganz auf sein Gitarren- und Querflötenspiel konzentrieren, das nach wie vor herrlich perlt oder turbulent faucht.
Sportlich und gelenkig
Sportlich gelenkig huscht der 69-jährige Rumpelstilz von dort nach hier, fuchtelt mit der Flöte und schlenkert lässig auf einem Bein stehend mit dem anderen. Da ist er ganz der Alte. Mit Florian Opahle – seinem versierten Rosenheimer Gitarristen, der manches beklatschte Solo vom Stapel lässt – duelliert sich Anderson lustvoll.
Völlig entfesselt spielt Jethro Tull aber nur am Ende in einer atemberaubenden Fassung ihres „Locomotive Breath“, bei dem hinter der Band eine Dampflok über endlose Schienenstränge rast.
Das anfangs verhaltene Kemptener Publikum tobt zwar. Aber das Film-Konzert hinterlässt ein zwiespältiges Gefühl.