
Otto betritt als erster Stammkunde die kleine Kneipe mit Fliesenboden, Geldspielautomaten und diversen Warnschildern an den Wänden. Auf einem steht: "Einige Menschen leben nur, weil ich mir keinen Auftragskiller leisten kann." Im Fernseher links oben im Eck läuft Star-Trek auf Kabel eins.
Noch vor dem Frühstück bestellt Otto "rotes Kompott". Manni weiß, was zu tun ist. Er bringt ihm ein Schnapsglas randvoll mit Averna. Otto kippt den Bitterlikör mit der roten Flaschenaufschrift in einem Zug runter. Dann greift er nach einer Weinschorle, die Manni schon für ihn bereit gestellt hat. "Ich kenn' doch meine Pappenheimer", brummt der kräftige Wirt mit den verblasssten Tätowierungen auf den Armen. Er war mal ein guter Amateurboxer. Damals. Als es die DDR noch gab.
Manni ist in Leipzig aufgewachsen. Sein Leben begann verrückt.
Geboren wurde er nämlich in Karlsruhe (Baden-Württemberg). Doch sein Vater, den er als "Erzkommunist" bezeichnet, zog Anfang der 1960er Jahre mit Frau und Kindern freiwillig zu Verwandten in den Osten. Dass 1961 mit dem Bau der Mauer begonnen wurde, störte ihn nicht. Die Familie blieb in Leipzig.
Mauer uff, Manni weg. Wirt Manni über die Wende.
"Mein Vater hat mich 30 Jahre meines Lebens gekostet", sagt Manni, der die DDR als junger Mann hasste. Als die Wende kam, gab es für ihn kein Halten mehr. Motto: "Mauer uff, Manni weg." Sein Weg führte schnurstracks nach Altusried (Oberallgäu), wo bereits ein Bekannter von ihm wohnte. Manni schlug sich in verschiedenen Jobs durch, bis er vor 13 Jahren Pächter der "Harmonie" wurde.
Wenn man, wie der Reporter, die Kneipe zum ersten Mal betritt, kann man es sich nicht vorstellen: Aber diese 40 Quadratmeter mit all ihrem schrägen Inventar, den schrulligen und teils auch gescheiterten Existenzen, nennt er einen Teil von seinem kleinen Glück. "Ich hab Arbeit, kann reisen, wohin ich will. Kann Witze erzählen, ohne dass die Stasi zuhört. Der Tag der Einheit ist für mich ein Feiertag", sagt er nippt an seinem Kaffee. Alkohol trinkt er keinen mehr. Früher war das anders. "Da hab ich gesoffen wie ein Stier." Doch im Lauf der Jahre hat er mit eigenen Augen verfolgt, wie sich Leute systematisch zugrunde richten. Manni zieht eine kleine Schachtel aus der Schublade und kramt drei Sterbebilder heraus. Sie zeigen frühere Gäste. "Die haben die Drogen ins Grab getrieben", sagt er.

Die Harmonie hat ihren zweifelhaften Ruf als verruchteste Kneipe in Kempten nicht von ungefähr. Das weiß Manni. Eine zeitlang hätten zwei Dealer aus der Nachbarschaft die Kneipe unterwandert. Gäste erzählten, wie ihnen Koks, Heroin und Chrystal Meth angeboten wurden. Manni, der alte Boxer, holte zum Rundumschlag aus. "Ich hab das ganze Gesocks rausgeworfen." Gut vier Jahre ist das jetzt her. "Seither ist Ruhe", bestätigt Otto, der ein weiteres "Kompott" bestellt und nach den Weißwürsten fragt. Er muss ein bisschen Grundlage schaffen. Der Tag ist ja noch jung. Gleich wird die Schafkopfrunde eröffnet. Dann geht's richtig hoch her. Die ersten Pils wandern über den Tresen.
"Den Ossis darf man ruhig mal dankbar sein", findet Otto. "Ohne die hätten wir heute keinen Feiertag." Und keinen Manni in der Harmonie. "Der hat die günstigsten Preise", loben sie an den Tischen. Das billigste Bier, Hartz-IV-Halbe genannt, kostet 1,80 Euro. Das teuerste kostet 2,50 Euro. "Was soll ich die Leute abzocken? Ich bin doch selbst einer von denen", sagt Manni. Nur mit sich handeln lässt er ungern. Auch nicht am Feiertag. "Wer bestellt, bezahlt, Saftsack", würgt er Ottos Frage nach einem Gratis-Kompott ab.
Manni muss schließlich auch kämpfen. Durch das Nicht-Rauchergesetz habe er viele Kunden verloren. Und die, die noch kommen, hätten nicht mehr so viel Geld wie früher. Doch was sind das überhaupt für Menschen? "Leute, die noch mit der Hand arbeiten", sagt einer am Tresen und fügt mit Blick auf den fremden Gast mit Kamera und Block an: "Und nicht am Schreibtisch!" Gelächter an den Tischen.
"Biografie? Biomasse passt besser!!
Als sich die Runde gerade beruhigt, meint ein anderer: "Jetzt lasst mal den Manni weiterreden. Der schreibt ihm doch grad seine Biografie." Darauf deutet Otto auf Mannis Bauch und meint: "Biomasse passt besser." Jetzt dröhnt auch Mannis Lachen durch die Kneipe. Irgendwann fährt er fort: "Hier kommt alles rein. Vom Schichtarbeiter bis zum Rentner, vom Arbeitslosen bis hin zum Millionär."
Letzteres Klientel wird an diesem Morgen zwar nicht gesichtet. Aber dafür verrät Manni seinen Zukunftsraum. Ausgerechnet am "Tag der Einheit" kündigt er an, zurück in den Osten ziehen zu wollen. "Als Rentner verlege ich meinen Hauptwohnsitz nach Leipzig. In die alte Heimat. Da ist es mittlerweile richtig schön und immer was los." Dann schwärmt von Kneipen, Restaurants, einer Kanalrundfahrt mit dem Motorschiff und dem Gothic-Treffen, das er mit ein paar seiner Kneipen-Gästen schon besuchte. In einem Jahr will sich Manni als Wirt der Harmonie verabschieden.
"So weit", sagt Stammgast Otto, "mag ich gar nicht denken." Dann bestellt er das nächste rote Kompott.